Zu Besuch im Hängenden Kloster in Hunyuan / Von Geraldine Friedrich
Dünn wie Zahnstocher wirken die Tannenstämme, die das „Xuankongsi“, zu deutsch „Hängendes Kloster“, am Berg Hengshan, 70 Kilometer südöstlich der chinesischen Kohlestadt Datong, von unten stützen. Die Balken liegen zu zwei Dritteln in den Felsen. Die teils winzigen Hallen mit Pagodendächern scheinen dadurch wie Schwalbennester an der Felswand 50 Meter über dem Boden zu kleben. Kaum zu glauben, dass Arbeiter diese Anlage bereits vor rund 1500 Jahren errichteten. Wer kommt bloß auf die Idee ein Kloster an einer steil abfallenden Felswand zu bauen? Zudem liegen die Minigebäude die meiste Zeit im Schatten, im Juli konnten sich die Mönche gerade mal über vier Stunden Sonnenlicht täglich freuen, ohne Heizung im Winter nicht vergnügungssteuerpflichtig. Die Durchschnittstemperatur in und um Datong beträgt im Jahresmittel 5,5 Grad Celsius, im Winter sind minus 20 Grad normal.
Doch alles hat seinen Grund. Denn unterhalb des Hängenden Klosters verlief die damalige Pilgerroute von Datong nach Wutai Shan, einem der vier heiligen Berge des Buddhismus in China. Die Reisenden machten auf dem Wege Halt im Kloster um sich dort zu erholen. Zudem verläuft unterhalb der Steilwand der Fluss Hun, der bei heftigem Regen schnell über die Ufer trat. Da die meisten Chinesen abergläubisch waren – und heute immer noch sind – dachten sie, man könne durch die Errichtung eines Tempels, der auf die davor liegende „Schlucht des Goldenen Drachen“ (Jinlongxia) blickt, den Fluss besänftigen und sich gleich selbst vor Fluten und vor Feinden schützen. So schien die Lösung eines „schwebenden“ Klosters aus damaliger Sicht praktisch. Heute schützt eine schlichte Staumauer vor Überschwemmungen. Bis in die 90er Jahre lebten hier noch zwei Mönche, welche die Besucher bei Opfergaben und beim Beten unterstützten, heute steht das Kloster leer. Doch eins ist sicher: Die Mönche, die hier ihr Dasein fristeten, mussten schwindelfrei sein. So überkommen beim Besichtigen des Bauwerks auch geübten Reisenden mulmige Gefühle, zum Beispiel wenn man die drei bis vier Meter lange Holzbrücke überquert, die den unteren Teil des Klosters mit dem oberen verbindet. Sie erinnert eher an eine Hühnertreppe, vielleicht 70 Zentimeter breit, die Geländer sind 60 bis 70 Zentimeter hoch und gehen einem normalgewachsenen Mitteleuropäer allenfalls bis zum Oberschenkel.
Rechts und links wartet der 50 Meter tiefe Abgrund. Unangenehm sind die Momente, in denen ignorante westliche Touristen meinen, sie müssten sich an einer engen Passage samt Rucksack vorbeiquetschen. Der Rundgang ist aus gutem Grund eine Fußgängereinbahnstraße, da für Wendemanöver schlichtweg kein Platz ist. So ziehen es auch einige Besucher es vor, im unteren Gebäudeteil zu bleiben.
Wer es wagt, wird jedoch mit einem Rundgang durch 40 teils winzige Hallen mit rund 78 Skulpturen aus Bronze, Eisen und Stein belohnt. Die rückwärtigen Wände bestehen oftmals aus dem Felsen selbst. Ein Beispiel dafür ist die Sanguan-Halle, eines der größten Gebäude des Hängenden Klosters. Bei ihr versuchten die Arbeiter mehr Raum zu gewinnen, indem sie eine tiefe Höhlen in die Felswand schlugen. Dadurch ist die Halle größer. Insgesamt steht das Hängende Kloster für ein freundliches Miteinander der chinesischen Religionen Daoismus, Buddhismus und Konfuzianismus. Letzterer hat der chinesischen Gesellschaft auch noch die heute geltenden typischen Züge verliehen: Sein Namensgeber, der Philosoph Konfuzius (6. bis 5. Jahrhundert vor Christus), formte das Klassendenken sowie die Familienstruktur, in der grundsätzlich der Mann über der Frau, die Eltern über den Kindern und der ältere Bruder über den jüngeren stehen.
So wäre es beispielsweise undenkbar, dass sich ein Schüler den Anweisungen seines Lehrers widersetzt, ohne sein „Gesicht zu verlieren“. Das Gegenteil des Konfuzianismus bildet der Daoismus (auch „Taoismus“), der den Egoismus des Einzelnen betont. Der Buddhismus, die jüngste der großen chinesischen Religionen, sieht wiederum das Leben als Leiden, von dem der Mensch per Erleuchtung erlöst wird. Im Kloster sichtbar werden alle drei Weltreligionen lediglich in der Halle der Drei Religionen („Sanjiao Dian“), denn nur dort sind deren Leitfiguren allesamt als Statuen vertreten: Laozi (auch Laotse genannt), Buddha und Konfuzius.
Alle anderen Hallen widmen sich jeweils nur einer Religion. Für einen ausländischen Besucher sind die Unterschiede schwer auszumachen. Beispielsweise existieren nur im Daoismus Gottheiten für die Elemente Erde, Wasser und Himmel, aus denen sich die ganze Welt zusammensetzt. Leider haben Anhänger der Kulturrevolution vielen Figuren Köpfe und Arme abgeschlagen – ganz gleich, um welche der drei Religionen es sich handelte.
(RNZ Magazin, Nr. 133, 13./14.6.2009)