Der Gelehrte kam, um über den Gelehrten zu sprechen. Dabei stellt sich die Frage, was ist ein Gelehrter? Bei uns in Deutschland gilt ein unabhängiger Denker als Gelehrter. Jemand, der sich kritisch mit Politik, Religion und Wissenschaft auseinander setzt. Gibt es das in China? „Nein“, sagt Prof. Wolfgang Kubin und doch hielt er vergangene Woche an der Tongji Universität einen Vortrag über den Gelehrten in China.
Kaum betritt Prof. Kubin das Podium, werden im Publikum die Kameras gezückt. Der Sinologe gehört mit Sicherheit zu den bekanntesten seiner Art. Gerne formuliert er seine Thesen provokant und zugespitzt. Vor fünf Jahren warf Kubin den chinesischen Autoren vor, den Anschluss an die Moderne verloren zu haben und, schlimmer noch, schlecht zu schreiben. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, erhielt Kubin 2007 den Staatspreis der VR China. Die wichtigste literarische Auszeichnung des Landes.
Ist Kubin mit seinen bissigen Thesen besonders mutig oder will er nur etwas mehr Aufmerksamkeit? Fest steht, sie verleihen seinen Vorträgen Würze. An der Tongji Universität erschienen so viele Deutsche und Chinesen, dass sogar kurzfristig ein größerer Raum gesucht werden musste.
Gut eine Stunde referierte Kubin über die großen Denker im alten China. Dabei stellte er insbesondere die Unterschiede zwischen China und Deutschland heraus. Während der deutsche Gelehrte in einer dreier Beziehung mit dem Herrscher und Gott steht und sich gerne genüsslich in der Kritik an Ersterem ergeht, führt der Gelehrte in China eine symbiotische Zweierbeziehung mit seinem Herrscher. Geist und Macht waren und sind in China immer eng verbunden. Kubin wirft den Gelehrten eine selbstverschuldete Unmündigkeit vor. Es existiere kein autonomes Selbst, sagt er. Spricht er damit etwa den Chinesen die Fähigkeit zu unabhängigem Denken ab? Aber auch die USA bekommen in kleinen Seitenhieben ihr Fett weg. Kubin lässt es sich nicht nehmen, darauf hinzuweisen, dass auch die Staaten ein Kollektiv seien, in dem alle dasselbe denken und sagen, ähnlich wie in China. Bevor der große Gelehrte aus Deutschland seine europäischen Kollegen durch den Kakao ziehen kann, wird es Zeit mit der Diskussion zu beginnen. Es besteht kein Zweifel, der 66-jährige freute sich besonders auf die Fragen aus dem Publikum.
Wie steht Kubin zu unserem ehemaligen Verteidigungsminister und seinem akademischen Malheur? Gelassen zuckt der Professor mit den Achseln: „Fehler eingestehen müsste doch reichen.“ Er führt den Fall des CSU-Stars auf eine politische Kampagne zurück. „Früher“, erzählt er „war der Doktorvater sogar beleidigt, wenn der Doktorand nicht aus dessen Dissertation abgeschrieben hat.“
Redet die deutsche Sinologie China schön? Von Prof. Kubin wird das mit Sicherheit niemand behaupten. Der Sinologe erklärt dem Fragesteller, dass gerade in China viele Sachverhalte zu komplex und widersprüchlich sind, als das man sie in ein, zwei Sätzen abhandeln könne. Kubin lobt die fundierten Artikel der FAZ und gerät in Fahrt, als er nach Deutschlands bekanntester Zeitschrift gefragt wird: „Ich hasse den Spiegel!“