Während des Zweiten Weltkriegs war Shanghai der rettende Hafen für Zehntausende jüdische Flüchtlinge. In einem der ärmsten Viertel der Stadt fristeten sie ihr Dasein, kämpften gegen Krankheit und Heimweh. Ein israelischer Journalist hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Shanghai interessiert sich nicht für die Vergangenheit. Shanghai, das ist die Zukunft. An der Uferpromenade Bund zieht die futuristische Skyline vom Wirtschaftsbezirk Pudong die Besucher aus aller Welt in ihren Bann. Dvir Bar-Gal kam vor zehn Jahren als Journalist von Israel nach Shanghai, um über die Zukunft zu schreiben. Doch dann wandte er sich zurück. Wo sich das „Peace Hotel“ erhebt und die Nanjing-Straße wie eine Schlagader tief ins Herz der Stadt führt, stieß er auf eine Geschichte, die ihn seither nicht mehr losgelassen hat. Die Geschichte der Juden von Shanghai. Die ersten jüdischen Einwanderer kamen nach dem Opiumkrieg in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach China. Shanghai war zum Vertragshafen geworden. Ausländer konnten hier Handel betreiben und schon damals übte Shanghai eine magische Anziehungskraft auf Geschäftsleute aus. Opium wurde importiert, Porzellan, Tee und Seide exportiert.
Am Huangpu-Fluss, wo heute die Touristen über den Bund flanieren, entstand eine internationale Siedlung. Neben Engländern, Amerikanern, Dänen und Deutschen beteiligten sich auch einige jüdische Einwanderer aus dem Irak an Shanghais florierendem Handel. Es waren nicht mehr als tausend, doch prägen sie die Stadt bis heute. Denn für sie liefen die Geschäfte gut, außergewöhnlich gut. Sie häuften Reichtümer an und bauten das „Peace Hotel“, das „Astor House“ und eine Synagoge am Bund. Sie besaßen die Grundstücke an der Nanjing-Straße und wohnten in Anwesen, die von der Größe her nur vom Sommerpalast in Beijing übertroffen wurden. Erst 1949, mit der Abschaffung des Privatbesitzes an Grund und Boden, verließen die Nachfahren der ersten Shanghaier Juden die Stadt. Zurückgelassen haben sie die Skyline des historischen Shanghai.
Zwei Nägel an einem Türrahmen, das bleibt von den Juden, die rund hundert Jahre nach den Iraker Juden kamen. Und an der nächsten Tür wieder zwei Nägel. Die Gasse, die von der Zhoushan-Straße wegführt, ist gerade mal einen Meter breit. Die Häuser haben zwei, drei Stockwerke. Hier wohnten die Flüchtlinge, denen zwischen 1937 und 1941 die Flucht vor den Nationalsozialisten in Deutschland geglückt war. Rund 20.000 waren es, vielleicht sogar 30.000. Ärzte, Geschäftsleute, Ingenieure. Die Bourgeoisie von Europa strandete in Hongkou, einem der ärmsten Viertel Shanghais. Mit den Nägeln haben sie eine Mesusa an der Tür befestigt, ein Behälter mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis. Der Glaube und die Traditionen aus der Heimat wurden mit in die Ferne genommen. Viel mehr Vertrautes blieb ihnen nicht. Dvir Bar-Gal führt seine jüdische Reisegruppe noch tiefer in die verwinkelten Gassen hinein. Eine Eisenverzierung an einer Tür sieht aus wie ein Davidstern und wieder zwei Nägel im Türrahmen.
Die chinesischen Bewohner wundern sich, warum in letzter Zeit immer öfter Ausländer kommen und warum sie alle Nägel und Türen fotografieren. Doch den israelischen Reiseleiter und Journalisten mit dem ernsten Blick kennen sie. Er kommt regelmäßig in ihr Viertel und erzählt die fast vergessene Geschichte der Juden in Shanghai. Dvir Bar-Gal kennt viele Nachfahren der Flüchtlinge. Er will die verschiedenen Puzzleteile zusammenfügen. Das ist seine Mission. Seine jüdischen Gäste fragt er, ob jemand in der Familie zu den Flüchtlingen von Shanghai gehörte. Für die Bewohner von Hongkou ist die bunte Schar Ausländer eine willkommene Abwechslung. Da werden selbst die Pokerkarten und die Mahjong-Steine für ein paar Minuten uninteressant. „Hello“ rufen und in die Kameras lächeln, das macht auch mal Spaß.
Obwohl der Stadtteil nur wenige Kilometer vom Bund entfernt liegt, wurde er noch nicht von der Zukunft eingeholt. In den Häusern gibt es keine Kühlschränke. Oft leben Großeltern, Eltern und Kinder auf wenigen Quadratmetern. Mehrere Familien teilen sich Küche und Bad. Kaum ein Fenster, das richtig schließt. Im Sommer ist es hier schwül und heiß, im Winter bissig kalt. Die Alten sitzen auf kleinen Hockern in den Innenhöfen und am Rande der Zhoushan-Straße. Schon als die jüdischen Flüchtlinge in den 30er Jahren hier ankamen, war Hongkou kein beliebtes Viertel. Die Japaner hatten Shanghai besetzt. In Hongkou lebte, wer sich nichts anderes leisten konnte.
1942 verlangten die Nationalsozialisten von ihren Alliierten im Fernen Osten, gegen die Juden vorzugehen. Die Japaner waren mit ihrem eigenen Krieg gegen China beschäftigt, wollten aber das Bündnis mit Deutschland aufrechterhalten. Also verfügten sie, dass alle Juden, die nach 1937 nach Shanghai gekommen waren, Hongkou nur mit einer Erlaubnis verlassen durften. 20.000 Juden und Tausende Chinesen lebten nun in den engen Gassen. 1945 waren rund 2.000 der Flüchtlinge an Krankheiten gestorben, jeder Zehnte. Hongkou war ein Gefängnis ohne Mauern. Rein konnten alle, doch raus kam nur, wer eine Erlaubnis von den Japanern bekommen hatte.
Armut, Krankheit, Krieg und Heimweh, das fremde China ist mit Sicherheit nicht die erste Wahl der Flüchtlinge gewesen. Doch Shanghai war nach der Reichspogromnacht der letzte Ort der Welt, zu dem Juden noch bis 1941 fliehen konnten. Denn die Stadt war ein offener Hafen. Weder Pass noch Visum wurden für die Einreise benötigt. Aber das allein reichte noch nicht. Schließlich brauchten Juden zur Ausreise aus Europa auch eine Genehmigung. Die Geschichte der jüdischen Flüchtlinge in Shanghai wird zu einer tröstlichen, fast einer schönen Geschichte, wegen eines einzigen Mannes, der es schaffte, das Leben unzähliger Menschen zu retten. Dr. Ho, der chinesische Konsul in Wien, hat über zwei Jahre hinweg jeden Monat bis zu 500 Juden eine Ausreisegenehmigung in den Pass gestempelt. Jedes Mal, wenn Dr. Ho den Stempel aufs Papier drückte, hat er ein Leben gerettet. Manchmal auch eine ganze Familie. Die Reise ging dann von Österreich nach Italien, durch den Suezkanal und schließlich bis nach China.
Mit wenig Gepäck kamen die Juden in Shanghai an. Hier waren sie frei, zumindest anfangs, und galten als staatenlos. In der Fremde versuchten sie sich heimisch zu fühlen. Sie öffneten kleine Läden, Bäckereien und Wiener Kaffeehäuser. Doch wo vor rund 70 Jahren Klein-Wien entstand, ist davon heute nicht mehr viel übrig. Dvir Bar-Gal zeigt auf eine Reihe junger Bäume. Vor zwei Jahren standen hier Häuser, dann wurde Hongkou zur „Entwicklungszone nördlicher Bund“ erklärt. Auch dieses Viertel soll modern werden, glänzen wie der Bund und Pudong. Die Bulldozer rückten an, um Platz für die Zukunft zu schaffen. Als der äußere Verputz der alten Häuser absplitterte, kamen plötzlich alte Inschriften zum Vorschein: „Wiener Delikatessen“. Ein Baustopp wurde angeordnet. Die alten Häuser sollten gerettet werden. Auf diplomatischem Weg setzten sich die Generalkonsulate von Deutschland, Österreich und Israel für den Erhalt der historischen Stätten ein. Doch am Ende siegte wieder einmal die Zukunft über die Vergangenheit in Shanghai. Wo früher im Café „Wiener Delikatessen“ Kaffee und Strudel verzehrt wurde, stehen heute zehn junge Bäume.
Die Inschriften sind weg. Der Kampf um den Erhalt des jüdischen Viertels in Hongkou geht dennoch weiter. Vor acht Jahren beschloss die Stadtregierung von Shanghai zumindest einen Teil von Hongkou zu erhalten und als touristische Sehenswürdigkeit zu entwickeln. Das Viertel rund um die Zhoushan-Straße sollte an einen Investor verkauft werden. Doch der Käufer hätte für den stolzen Preis von 700 Millionen US-Dollar lediglich die Grundstücksrechte für 50 bis 70 Jahre erworben. Im kommunistischen China gibt es noch immer keinen Privatbesitz an Grund und Boden. Dazu kam die Auflage, die Häuser so zu erhalten, wie sie sind. Keine sonderlich attraktiven Bedingungen für einen profitorientierten Investor. Hongkou sucht noch immer einen neuen Besitzer. Inzwischen wurde die Synagoge des Viertels renoviert. Das kleine Museum nebenan erzählt die Geschichte der Shanghaier Juden zu Ende. Dort wo sich früher die Gläubigen am Sabbat trafen, ist jetzt ein leerer Raum mit ein paar Bänken.
Die Synagoge diente nach der Kommunistischen Revolution bis 1998 als psychiatrische Anstalt. Jetzt untersteht sie dem Büro für Auswärtige Angelegenheiten in Hongkou. Sie hat keine religiöse Bedeutung mehr. Auch die Juden von damals sind nicht mehr da. Nach dem Krieg zogen die meisten weiter in die USA oder nach Australien. Manche ihrer Nachkommen reisen heute nach Shanghai und lassen sich von Dvir Bar-Gal zeigen, wie ihre Großeltern hier gelebt haben. Die Häuser der Juden von damals haben die Chinesen gekauft. Ein schlechtes Geschäft, denn 1949, nur vier Jahre später, begann die Kommunistische Partei mit der Enteignung der Grundbesitzer.
Dr. Ho, der unzähligen Menschen das Leben mit seinem Stempel gerettet hat, erzählte nicht einmal der eigenen Familie von seiner Heldentat. Er starb 1997 in San Francisco. Seine Tochter hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Leben und die Verdienste des Vaters an die Öffentlichkeit zu bringen. Sie schreibt seit einigen Jahren an einer Biografie. Nach Shanghai kommt sie regelmäßig und besucht das Viertel rund um die Synagoge. In dem kleinen Huoshan Park, keine 500 Meter von dem Museum entfernt, herrscht geschäftiges Treiben. Hier tummeln sich Jung und Alt. Die Sonne beginnt zu sinken. Die Schatten werden länger. Ein Mann mit schlohweißem Haar übt Tai-Chi. Ein pummeliger Junge spielt Geige und in den Bäumen hängen Vogelkäfige. Ein Gedenkstein erinnert an das jüdische Ghetto von Shanghai. Dvir Bar-Gal erzählt seiner Reisegruppe im Schatten der Bäume von einem anderen Projekt. Er ist auf der Jagd, seit zehn Jahren. Während Shanghai die Vergangenheit begraben will, sucht Dvir Bar-Gal das Letzte, was von den Einwanderern geblieben ist – ihre Grabsteine.
Vier jüdische Friedhöfe gab es in Shanghai. Doch sie sind alle verschwunden. Wie die Synagoge am Bund haben sie die turbulente Geschichte Chinas in den letzten hundert Jahren nicht überlebt. Jetzt liegen die Grabsteine verstreut in der Umgebung von Shanghai. In Flüssen, auf Feldern, manchmal werden sie von den Bauern als Waschsteine benutzt, manchmal taucht einer auf Shanghais Antiquitätenmärkten auf. Dvir Bar-Gal hat schon 105 Steine gefunden und er sucht weiter. 30 Familien konnte er identifizieren, vier kamen nach Shanghai. Dvir, der Grabsteinjäger, musste ihnen das letzte Zeugnis ihrer Ahnen in einem verlassenen Fabrikgebäude zeigen. In seinen dunklen Augen spiegelt sich Enttäuschung. Vielleicht auch eine Spur von Resignation. Sein Ziel ist es, eine Gedenkstätte mit den Steinen zu errichten. Hier, in dem kleinen Huoshan Park in Hongkou. Platz gibt es. Es fehlt nur noch die Genehmigung der Behörden.
Die lässt auf sich warten, denn erst einmal hat das Projekt „Entwicklungszone nördlicher Bund“ Priorität. Dann sollen die Bewohner umgesiedelt und vielleicht ein paar Bars oder Restaurants in den alten Straßen eröffnet werden. Touristen sollen kommen. Am besten auch Geschäftsleute. Eine Gedenkstätte mit Grabsteinen passt nicht ins Konzept. Shanghai möchte sich nicht erinnern. Shanghai möchte die Vergangenheit begraben. Denn schließlich hat die Zukunft schon begonnen, bald auch in Hongkou.
Erschienen bei: "inAsien"
Übrigens: Wer sich über die Geschichte der Juden näher informieren möchte, der sollte sich die Sonderausstellung "atmen und halbwegs frei sein - Flucht nach Shanghai" ansehen. Die Ausstellung ist noch bis 17. Juli 2011 im hamburg museum zu sehen.