An der Stadtmauer, die Shanghais historischen Stadtkern vor japanischen Piraten schützte, liegt Baiyun, der daoistische Tempel. Die Mauer wurde beim Sturz der letzten Kaiserdynastie zerstört. Heute verläuft hier die Volksstrasse (Renmin Lu) und einige Baustellen umgeben den Tempel. Die Altstadt befindet sich nach wie vor in einer zyklischen Entwicklung aus Abriss und Neuaufbau. Die maroden alten Häuser werden durch moderne Wohngebäude ersetzt. In der Ferne erhebt sich der Oriental Pearl Tower aus dem Dunst.
Links und rechts der Strasse, die zum Dao-Tempel führt, werden fette Fische und haarige Krabben in Wasserbottichen angeboten. Gebratene Teigtaschen warten auf einen hungrigen Käufer und das grüne Gemüse leidet unter der Hitze Shanghais.
Der Daoismus gehört zu den fünf offiziell anerkannten Religionen in China. Die meisten Chinesen haben keinen exklusiven Glauben, sie beten in einem buddhistischen Tempel genauso wie sie auch in daoistischen Tempeln opfern. Der pragmatische Chinese denkt sich: Schaden kann es nicht und vielleicht nützt es ja. Da es in China, anders als in Deutschland, keine offizielle Religionszugehörigkeit gibt, weiß auch niemand, wie viele gläubige Daoisten in der Volksrepublik leben.
Beißender Rauch zieht durch den Innenhof des Tempels und in die Augen der Besucher. Große Eisenkessel sind schon halb mit Asche gefüllt. Hier werden die symbolischen Opfer in Form von Papier verbrannt. Eine Gruppe alter Damen rezitiert einen monotonen Sing-Sang während der Priester vorsichtig einen großen Sack mit Opferpapier in Brand setzt.
Im zweiten Stock hantieren zwei Putzfrauen mit ihren Staubwedeln. Nicht nur der Staub von der Baustelle draußen, sondern vor allem die Menge an Ascheresten, die vom Innenhof aufsteigt, zieht in die offenen Räume und bedeckt die Altäre. Zwei Priester rezitieren aus dem Daodejing, dem Klassiker des Daoismus, und klopfen einen einfachen Rhythmus auf ein hohles Holzstück. Der Altar zwischen ihnen ist üppig bestückt. Melonen, Orangen, Bananen und Kekse sollen dazu beitragen, dass der Gläubige die innere Ausgeglichenheit, das Dao, findet.
Die Daoisten versuchten früher mit Atemtechniken, ein bisschen Alchemie und berauschenden Mixturen die Unsterblichkeit zu erreichen. Im hinteren Raum des Baiyun Tempels sind die untergebracht, denen das nicht gelungen ist. Hunderte von Urnen reihen sich an den Wänden. Die Putzfrau wedelt mit ihrem Staubwedel. Gegen eine Geldspende, kann man seine Ahnen hier unterbringen, erzählt sie. Die Urnen werden von den vier Priestern bewacht, die hier im Baiyun Tempel leben. Einige hundert Meter, wo Touristen aus aller Welt, den Konsum genießen, haben sie sich, wie es das daoistische Ideal vorschreibt, von den weltlichen Dingen zurückgezogen. Oder fast zurückgezogen. Während seine Kollegen das Daodejing rezitieren, schwatzt ein junger Priester eifrig auf sein Handy ein. Während der Ausbildung lernen die angehenden Priester nicht nur die daoistischen Lehren und die Durchführung der Rituale, sie beschäftigen sich auch mit Musik und Kalligraphie.
Die alten Damen haben inzwischen ihre Opfergaben verbrannt. Sie strömen aus dem Tempel heraus, reichen übriggebliebene Opferkekse herum und marschieren in Richtung Yu-Garten. Sie stürzen sich wieder ins weltliche Leben. Der junge Priester steckt sein Handy in die Kutte zurück und schlägt das Daodejing auf.