Zhu Dongbin ist eine schmächtige Gestalt. In seinem rosafarbenen T-Shirt scheint er regelrecht zu verschwinden. Doch der erste Eindruck täuscht, denn Zhu Dongbin kommt aus Henan, der Kung Fu Provinz. „Früher haben alle Menschen in Henan im Alter von 15 bis 80 Jahren und in jedem Dorf Wushu gekämpft“, erzählt Zhu und fügt hinzu, dass er selbst auch keine Ausnahme war.
Wushu ist eigentlich ein Sammelbegriff für chinesischen Kampfsport, genau wie Kung Fu. Es wird zwischen traditionellem und modernem Wushu unterschieden. Ersteres entstand vor mehreren tausend Jahren in China als eine Kampftechnik, die im Krieg gegen Feinde angewandt wurde. Modernes Wushu entwickelte sich insbesondere in den 50er, 60er Jahren nach Gründung der Volksrepublik. Es gibt zwei Hauptströmungen: Kickboxing und die elegante Variante mit den fließenden Bewegungen, wie sie im „Kung Fu Panda“ Trickfilm zu sehen ist.
Mit 12 Jahren fing Zhu an Wushu zu lernen. Eigentlich nicht sehr früh, aber seine Lehrer waren gut. In Henan beherrscht heute längst nicht mehr jeder Chinese die Kampfkunst. Zhu hat eine simple Erklärung: „Die Leute möchten heute arbeiten und Geld verdienen, sie haben keine Zeit mehr.“ Die Moderne hat auch Henan erreicht. Inzwischen sind Zhus Schüler angekommen. Neben den großen Ausländern sieht der Chinese noch zierlicher aus. Mit großen Schritten rennen sie auf sein Kommando durch den Raum. Es ist heiß, nach zwei Runden sind alle in Schweiß gebadet.
Longwu Kung Fu ist eine von Shanghais Kung Fu Schulen. Doch die Szene ist nicht groß. An den Schulen lernen zu 70% Ausländer. Viele sind nur kurzfristig hier. Manche schnuppern nur für fünf Unterrichtsstunden und kehren dann in ihre Heimat zurück. Die Chinesen halten wenig vom Schnuppern. Ganz oder gar nicht. Sie lernen Wushu an der Sportuniversität. Hartes Training, strikte Diät, schneller Erfolg.
Kyle kennt die Trainingsmethoden der Chinesen. Der junge Kanadier sitzt im Spagat auf der Gymnastikmatte und beobachtet leicht amüsiert die wilden Sprünge der anderen Ausländer. Er hat knapp 1,5 Jahre in einem Shaolin Tempel in Henan gelernt. Sechs Tage die Woche, acht Stunden täglich. Um fünf Uhr wecken die Mönche ihre Zöglinge, um 21.00 Uhr werden sie wieder auf ihre Kammern geschickt. Einmal die Woche gibt es eine Stunde „Power Stretching“. Kyle grinst: „Man lernt mit Schmerz und Tränen. Aber den Schmerz vergisst man, was bleibt ist die Dehnbarkeit, die man für Wushu braucht.“ Er erzählt, wie der Mönch beim Spagat sein Bein auf den Boden drückte bis er schrie. Dann hat der Mönch noch etwas mehr gedrückt. Eine Woche Muskelkater.
Im Herbst möchte Kyle wieder zurück nach Henan. Xiaolong heißt der Shaolin Tempel. Zurzeit trainieren dort drei Ausländer und rund 5.000 Chinesen. Auch Lehrer Zhu verreist in seinem Urlaub gerne. Zu kleinen Orten in Henan. Dort sucht er die alten Experten für traditionelles Wushu. Sie leben auf den Dörfern und haben zu der Zeit gelernt, als hier jeder ein Wushu-Meister war. Eine aussterbende Generation. Der Nachwuchs macht langsame Fortschritte. Genug gesprungen, Zhu lässt seine Schüler Dehnübungen machen. Bis zum kompletten Spagat wird es noch einige Übungsstunden dauern.