Unser männlicher Mitbewohner ist kein Mann vieler Worte, aber vieler weiser Voraussichten. Wenn er eines schönen Samstagmorgens mit einem Notizblock, einem Stapel Ski-Unterwäsche und den Wortfetzen " 'is frisch gewaschen" und "wird verdammt kalt" an einem vorbeitrottet, dann weiß man: unsere Reiseplanung für diesen Winter ist erledigt, die Klamotten sind wahrscheinlich wirklich frisch gewaschen und es wird definitiv verdammt kalt. Wir liegen richtig. Unser Weihnachtswunsch einer gemeinsamen Winterreise - gedacht war es als Flucht aus dem inzwischen frostigen Peking - ist in Erfüllung gegangen. Unsere schlimmsten Befürchtungen auch: Er dreht den Notizblock und wir lesen: Dongbei. Chinas Nordosten, die absolut kälteste Region des Landes. Schöne Bescherung!
Es ist viertel nach sieben, als der K429 in Tonghua einrollt. Während sich drinnen die letzten schläfrigen Reisenden aus den Decken der leicht muffigen Schlafabteile schälen, wirft draußen Herr Li einen skeptischen Blick auf die Bahnhofsuhr. Gut zehn Minuten noch, dann fährt der Anschlusszug nach Baihe. Das ist zu schaffen. Auch heute wird wohl kaum jemand länger als nötig in Tonghua bleiben. Wieder mal wird sich kaum ein Gast in die schmale Seitenstraße und in Herrn Lis Restaurant verirren, Pfannenkuchen mit Fleischfüllungen – die Spezialität der Provinz Jilin – bestellen oder Wein aus Tonghua probieren. Und tatsächlich schwappt die Welle aus Mensch, Gepäck und Proviant bereits in Richtung Anschlussgleis. In Tonghua haben sie sich daran gewöhnt. Trotzdem, einen Versuch ist es wert. Herr Li räuspert sich. „Tonghua“, verkündet er, und wedelt mit einer zerfledderten Broschüre des Tourismusbüros Jilin, „Tonghua ist eine der Heimatstädte chinesischen Weins. Wein aus Tonghua müssen Sie unbedingt probieren!“ Das ist das eine, was man über Tonghua wissen muss. Wein. Das andere ist, dass es meistens nicht der süßlich-schwere Traubensaft ist, der Reisende nach Tonghua Reise hierher lockt. „Dabei“, seufzt Herr Li und nickt in Richtung Bahnsteig, „kommen die Trauben für unseren Wein ja daher, wo die alle hinwollen.“ Dann schlägt er die erste Seite der Broschüre auf und tippt zielsicher auf den Ursprungsort der Trauben. Für Herrn Li heißt dieser Ort „da, wo die alle hin wollen“. Für alle, die dahin wollen, heißt er Changbaishan.