Weil in meinem Gesicht alles genau dort ist, wo es hingehört (Nase in der Mitte und Augen direkt unter der Stirn, nicht mitten drauf) wäre ich im alten China Kaiserin gewesen. Warum? Wegen meiner berückenden Schönheit hätte mich der damalige Kaiser definitiv zu seiner Gemahlin genommen. -Ehrlich! Das zumindest beteuerte mir der Hand- und Gesichtsleser Chen, dessen weisheitsbärtiges Gesicht und intelligente Augen meine Zweifel wie Schnee in der chinesischen Frühlingssonne dahinschmelzen ließen.
Ich muss zugeben, dass ich eigentlich kein großer Freund der ätherischen, von Weihrauchstäbchenduft und meditativer Musik umwobenen Welt bin. Neugierig war ich aber trotzdem, als meine Freundin vorschlug, doch einmal den wahrsagerischen Teil der alten chinesischen Tradition zu erkunden. So stieg ich eines Mittags in ein Taxi, den Kopf voller Bilder von dunkel-mystischen Läden mit deckenhohen Regalen alter heiliger Bücher, vor denen ein mit spirituellem Schmuck behangener Greis sitzt.
Doch da hatte ich wohl etwas falsch verstanden. Am Zielort, einem Hutong irgendwo um Beixinqiao herum, angekommen, sah zunächst noch alles genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte: ein großes, traditionell quietsch-buntes Tor gefolgt von einem kurzen schattigen Durchgang, der zu einem kleinen versteckten Innenhof mit steinernen Buddha-Statuen und einem massiven Tongefäß voller Gebetsstäbe führte.
Kaum hatten wir uns staunend umgeschaut, da lugte auch schon ein spitzbärtiges Gesicht aus einer der roten Hutongtüren hervor. „Hier entlang, hier entlang!“ War das Chen? Blind folgten wir dem Fremden durch einen engen Gang in den Raum, der mir meine Zukunft und Vergangenheit offenbaren würde. -naja, oder zumindest etwas in dieser Richtung.
Er führte uns aus meinem Hirngespinstparadies eines magischen Ortes heraus in ein kleines dunkles Büro, in welchem er, dem Aussehen nach, genauso gut Versicherungen hätte verkaufen können. Die einzigen Hinweise auf seine wahre Profession waren große Poster von Gurus an den Wänden und eine sehr überschaubare Anzahl von mit Zahlen übersäten Figuren. Auf einem Hocker neben seinem Laptop platzgenommen, ging es auch sofort los.
Laut Chen sprechen die vier Abschnitte meines rechten Zeigefingers davon, dass ich in naher Zukunft mindestens drei bis vier Kinder haben werde. Dabei war ich immer der Ansicht, dass ein Kind vollkommen ausreicht. Irgendwann einmal. Eventuell zwei, aber das auch nur, wenn das erste sehr ruhig und pflegeleicht war. Wie nah ist „nahe Zukunft“ überhaupt? Und will ich wirklich, dass meine Finger so geschwätzig sind?
Mir wurde ziemlich schnell klar, dass da neben ein paar Offensichtlichkeiten (meine Schlafrhythmusstörungen waren relativ unschwer an den Augenringen abzulesen) und auf junge Frauen zugeschnittenen Kommentaren (ich würde einen starken Mann heiraten und sehr reich werden) vieles einfach nur dahin geweissagt wurde. Magenprobleme hatte ich nämlich, zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Der einzige Teil dieser ganz speziellen Lesung, den ich mir mit einem breiten Grinsen gern mitnahm, war dieser Moment: „Dein Gesicht ist quasi perfekt. Alles ist genau, wo es sein sollte. Du bist so schön, dass du in der Ming-Dynastie eines Kaisers Frau geworden wärest.“ Sehr gut! Das sind doch schon mal Aussagen, die ich bei meiner zukünftigen Partnerwahl berücksichtigen kann.