„Ein Volk macht Urlaub“, titelt Spiegel Online in seiner Fotostrecke vom 5. Oktober diesen Jahres. Zu sehen sind Bilder der überfüllten Verbotenen Stadt in Peking- und auf der Großen Mauer schaut es aus als stünden die Menschen zum Winterschlussverkauf in der Schlange. Menschenmassen so weit das Auge reicht. War es denn wirklich so schlimm in China? Nein – es war sogar noch schlimmer.
Mit Xiamen habe ich mir einen Studienort ausgesucht, der sich nicht unbedingt durch seine Unbekanntheit auszeichnet. Die Stadt ist beliebt - sehr sogar. Bei Einheimischen und auch bei ausländischen Studierenden kommt Xiamen, das übersetzt Tür zum Sommer bedeutet, sehr gut an. Die Küstenlage, das tropische Wetter und die autofreie Insel Gulangyu machen die Stadt besonders attraktiv während der Goldenen Woche. Die Folge: überfüllte Busse in die sich die Menschen regelrecht hineinpressen, pöbelnde Straßenpassanten, die auf die ausgelasteten und teils mangelhafte Infrastruktur schimpfen, und dann ist da noch diese Hitze.
In Augenblicken, wenn die Straßen vollkommen überlaufen sind und Passanten von allen Seiten einem auf die Füße treten, denke ich sehnsüchtig an den deutschen Föderalismus und die Ferienzeitregelung in jedem Bundesland. Wie vorrausschauend, dass in jedem Bundesland die Ferien zu unterschiedlichen Zeiten beginnen, um Verkehrschaos zu verhindern. Die Regierung in Peking hat die Goldene Woche ursprünglich eingeführt, um die Binnenwirtschaft anzukurbeln. Die Chinesen, seit Jahrzehnten ein Arbeitsvolk das kaum Feiertage kennt, haben nun gleich eine ganze Woche zu ihrer freien Verfügung. Beginnend am 1. Oktober, Nationalfeiertag der Staatsgründung der VR China vor 63 Jahren, gerät ein Milliardenvolk in Bewegung und ich kann nur staunen. Aufgrund der starken Urbanisierung ziehen immer mehr junge Menschen in die großen Metropolen um Arbeit zu finden. Wegen der wenigen Feiertage in China, haben sie lediglich in der Goldenen Woche Zeit ihre Verwandten zu besuchen. Daher bilden sich vor allem im öffentlichen Transport große Menschenmassen, so wie sie in Deutschland kaum vorstellbar wären.
Trotz aller Bedenken nutzte auch ich die freie Zeit, und trete ebenfalls eine Reise an. Anders als erwartet, erlebte ich keine überfüllten Züge oder lange Schlangen beim Kartenkauf. Das Reisen mit dem Zug war sogar überraschend angenehm und ich hatte auch sehr viel Platz. Bei der zehnstündigen Zugfahrt nach Wuyi machte ich es mir in meinem Schlafabteil bequem und vertrieb mir die Zeit mit Kartenspielen, zusammen mit anderen Fahrgästen. Von den Menschenmassen „zu Hause“ in Xiamen bekam ich während der Fahrt nichts mit. Im Gegensatz zu Xiamen war Wuyi sogar sehr idyllisch - die Teeplantagen vor Ort eignen sich perfekt für einen verträumten Spaziergang.
Das Wuyi Gebirge ist ein Gebirgszug, welches auch als „Garten Eden“ Chinas bezeichnet wird. Aufgrund der unberührten Landschaften und der Vielzahl an Tieren und Insekten, gehört es inzwischen zum UNESCO Weltkulturerbe. Mehr als die Hälfte aller Schlangenarten in ganz China lebt bispielsweise im Wuyi Gebirge.
Um das Wuyi Gebirge besser kennenzulernen, brachte mich mein Fahrer in einen Kletterpark. Dort konnte ich dann meine Höhenangst an den steilen Felsen direkt konfrontieren. Zunächst wärmte ich mich an einer Kletterwand auf, bevor ich den ersten Aufstieg wagte. Ich hatte viel Spaß daran meinen Körper zu fordern. Irgendwann verlor ich allerdings den Halt und stürzte, natürlich mit Equipment gesichert, in die Tiefe. Meine Beine zitterten nach diesem Kraftakt bereits und ich empfand es anstrengender als zunächst von unten noch gedacht. Danach bestieg ich eine Anhöhe, von der aus ich an einem Hochseil hängend auf die andere Seite des Gebirges hinunterrutschen konnte.
Etwas schwer ums Herz beobachtete ich zunächst, ob denn auch alle sicher auf der anderen Seite ankamen. Nach zehn Minuten der intensiven Inspektion ignorierte ich einfach meinen Verstand, der mir riet auf dem Absatz kehrt zu machen, und ging zu der Plattform. Die Füße sehr schwer, die Hände verschwitzt und die Beine sehr zittrig, legte man mir den Sicherheitsgurt an. Sah alles etwas spartanisch aus, doch jetzt gab es kein zurück mehr – nur noch der Schritt nach vorne direkt in den Abgrund.
Nachdem das anfänglich ungewohnte Gefühl der Leere unter den Füßen überwunden war, schoss ich mit Vollgas über Bäume und Flüsse hinweg, und konnte sogar, nachdem der erste Adrenalinschock langsam nachlies, die tolle Aussicht über den Park genießen. Nervenkitzel pur – mit zitternden Füßen kam ich auf der anderen Seite an und wunderte mich darüber, wie schnell die rasante Fahrt vorbei war.
Am Abend dann ging ich es etwas langsamer an und besuchte „nur“ ein Freilufttheater, das in der Region Fujian sehr bekannt ist - es thematisiert nämlich Tee. Die ersten Europäer die Tee importierten, nannten ihn „wooyee“, weil der Tee ursprünglich aus den Wuyi Gebirgen kam. Eine Besonderheit des Theaterstück war der bewegliche Zuschauerraum. Wenn die Schauspieler wanderten, so wanderten auch die Zuschauer mit ihnen, denn das runde Konstrukt für das Publikum drehte sich einmal komplett um die eigene Achse. Interessant war auch, wie die Natur in das Theaterstück mit einbezogen wurde. So gab es beispielsweise echte Bäume die mit in das Stück integriert wurden, und sogar der Fluss, der direkt neben dem Theater verläuft, wurde in einer Schlüsselszene in das Theaterstück eingebaut. Darauf begannen die Protagonisten eine romantische Bootsfahrt in der sie sich näher kennenlernten.
Nach zwei Tagen Erholung in Flora und Fauna kehre ich in das Stadtleben zurück, um die restliche Zeit der Goldenen Woche ausklingen zu lassen. So verbrachte ich eine ruhige und abwechslungsreiche Zeit in Wuyi, während in meiner Wahlheimat Xiamen die Menschen Kopf standen.