Mindestens zweimal täglich ein Anruf, eine SMS und am liebsten möchten sie mich nach jedem Treffen bis nach Hause begleiten. Chinesische Freunde können manchmal etwas anhänglich sein, doch man darf das nicht falsch verstehen. Live-Reporter Ceyhun Yakup Özkardes erzählt in seiner Kolumne von seinen Erfahrungen mit JiYi – einem Taekwondo Coach in Xiamen.
Mein Handy vibriert und versetzt meinen Tisch ebenfalls in Bewegung, doch ich gehe nicht ran. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich möchte jetzt nicht abnehmen, weil ich mir sicher bin wer da am anderen Ende ist. Mein neuer chinesischer Freund aus dem Taekwondo Verein versucht mich anzurufen – bereits zum dritten Mal. JiYi, 20 Jahre jung, ist ein unglaubliches Talent im Taekwondo. An den Wochenenden arbeitet er in einem Taekwondo Club in Xiamen und unter der Woche besucht er die Schule. Er ist unheimlich zuvorkommend und sympathisch, aber manchmal können chinesische Freundschaften für uns Westler etwas anstrengend sein. Nach mehr als zwei Monaten habe ich mich in Xiamen sehr gut eingelebt, habe Anschluss bei Chinesen gefunden und treffe mich regelmäßig mit ihnen. Es geschieht genau bei solchen Gelegenheiten, dass ich wieder etwas über mich selbst und über die eigenen Werte und Vorstellungen erfahre.
Ich habe das Gefühl JiYi würde für mich alles stehen und liegen lassen und wenn es nötig ist seine gesamte Freizeit für mich opfern. Allerdings basiert eine Freundschaft bekanntlich auf Gegenseitigkeit, weshalb er genau dasselbe auch von mir verlangt. Für Chinesen sind Ausländer, insbesondere Menschen aus dem Westen, Gäste der besonderen Art. Deutschland spielt da eine spezielle Rolle, da das „Land der Tugenden“ 德国 (bedeutet Deutschland übersetzt auf Chinesisch) sehr beliebt und bekannt ist. Wie überall im Ausland rühmt man die deutschen Automarken und deren gute Qualität. Auch wenn ich kein Ingenieur bin und nicht besonders interessiert an Autos, muss ich mit Chinesen oft ein Gespräch über BMW oder Audi führen. Allerdings ist JiYi in dieser Hinsicht etwas anders. Ihm ist es wichtiger, dass wir zusammen Zeit verbringen - viel Zeit.
Freundschaft ist ein sehr lockerer Begriff in China und nicht vergleichbar mit Freundschaften in Deutschland. Wo die Deutschen doch eher verschlossen und fast schon prüde gelten, gilt man unter Chinesen bereits nach dem ersten Treffen als beste Freunde. Dies beinhaltet auch das gegenseitige anvertrauen von persönlichen Geheimnissen genauso wie zusammen zu Abend zu essen. Auch zwischen privatem und geschäftlichen findet keine Trennung statt sondern eine Mischung. Mit der Freundschaft kommen, aus chinesischer Sicht auch direkt die Sorge und die Hilfe gegenüber dem Freund, wie mir während meiner Reise nach Fuzhou aufgefallen ist.
Im Auftrag von China Tours, fuhr ich in die Provinzhauptstadt von Fujian - nach Fuzhou. Zu diesem Zeitpunkt war JiYi ebenfalls in Fuzhou und wollte mir vor Ort helfen. Um mich nicht ganz auf meinen eifrigen Freund verlassen zu müssen, suchte mir dennoch bereits vorher die Wegbeschreibung heraus und rief ihn lediglich an als ich in Fuzhou ankam. Er entschuldigte sich, dass er gerade keine Zeit hätte und ich dachte die Sache wäre damit erledigt. Meinen Zielort fand ich problemlos und ging meinen Aufgaben nach. Etwa 20 Minuten später rief JiYi jedoch wieder an, um mir eine detaillierte Wegbeschreibung zu meinem Ziel zu geben. Er war sehr überrascht über meinen Alleingang und meine schnelle Ankunft in der Polizeistation. Im Nachhinein gestand er mir, dass er Angst um mich hatte und besorgt darüber war, dass ich verloren gehen könnte. Obwohl ich jeden Tag Chinesisch lerne und inzwischen viele Situation auch meistern kann, war er sehr verwundert über meine Selbstständigkeit in einem für mich fremden Land.
In einer anderen Situation wurde mir die unterschiedliche Denkweise zwischen China und Deutschland ebenfalls deutlich vor Augen geführt. Bei einer Trainingseinheit in der Taekwondo Schule posierten die Trainerkollegen und ich, für Gruppenfotos. Ich dachte mir dabei nichts und hielt es lediglich für ein paar Schnappschüsse. Doch in einer der nächsten Trainingseinheiten fand ich in einer Ecke der Halle drei Kisten voll mit Werbeflyern für die Taekwondo Schule, auf dem genau dieses Gruppenfoto verwendet wurde. Dazu von allen Trainern noch ein kurzer Text, von mir natürlich auf Englisch. An sich eine gute Sache, doch ich hatte das Gefühl übergangen zu werden. Ich wurde weder mit einbezogen noch wurde ich um Erlaubnis gefragt. Da Westler so sehr von Chinesen bewundert werden, sind sie auch oftmals ein Vorzeigeobjekt und eine Art Trophäe. Genau so fühlte ich mich dann leider auch, so als würde ich herumgereicht werden. Die Bekanntschaft und auch die Freundschaft mit einem westlichen Studenten ist etwas Besonderes für die Taekwondo Schule. Dieses Foto mit mir sollte eine Nachricht übermitteln und zeigen, „wir sind mit dem Westen verbunden.“
Bei dieser Geschichte kam ein kultureller Punkt zum tragen: das Konzept des Guanxi System, 关系. Das Beziehungsnetzwerk in das jedes Mitglied der Gesellschaft eingebunden ist. Danach ist es völlig legitim, Beziehungen zu nutzen und auch von ihnen zu profitieren. Am ehesten ist es vergleichbar in Deutschland mit Seilschaften, in denen man sich gegenseitig hilft und auch unterstützt. Dabei tut man etwas um in der Schuld des anderen zu stehen und erwartet im Gegenzug ebenfalls Hilfe oder gar eine bestimme Gegenleistung. In meinem Fall versuchten die Trainer durch den Werbeflyer bei mir Eindruck zu hinterlassen, damit ich weiterhin Training in der Taekwondo Schule gebe. Trotz allem bin ich sehr dankbar für die tolle Hilfe und Unterstützung von JiYi und den anderen Trainern. Sie sind nämlich immer da, wenn ich ein Problem oder eine Frage habe und widmen mir ihre vollkommene Aufmerksamkeit. Durch sie lerne ich weitere Chinesen kennen, expandiere mein „Guanxi“ und habe, mehr denn je Einblick, in die chinesische Kultur. Und das nicht aus Büchern, sondern ganz praktisch im Alltag, live sozusagen. Ich werde jeden Tag aufs Neue mit dem chinesischen Gedankengebäude konfrontiert und lerne selber immer mehr dazu. Interkulturelle Konzepte betonen beim Schließen von interkulturellen Freundschaften den Synergieeffekt. Also die Verschmelzung von verschiedenen Ressourcen aus zwei Kulturen zu einem neuen Gebilde. Dabei sollen beide Partner eine Neudefinition von wichtigen Elementen vornehmen wodurch eine neue Gesamtheit entsteht. Ein nicht ganz einfaches Ziel aber ein erstrebenswertes in unserem Fall, weil dadurch die Qualität unserer gemeinsamen Zeit zunimmt.