Mit dem Kommunismus und vor allem zur Zeit der Kulturrevolution durfte die Religion in China nicht mehr frei ausgeübt werden. Doch in den letzten Jahrzehnten lockerten sich die Beschränkungen und heute kehren immer mehr Menschen zu den religiösen Wurzeln ihrer Traditionen zurück. Beobachtungen und Überlegungen zu diesem gegenwärtigen Trend.
Während die chinesische Kultur zu Kaiserzeiten stark von der religiösen Trinität Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus beeinflusst war, führte das Ende der Monarchie 1911 und die darauffolgenden Modernisierungsbemühungen des 20. Jahrhunderts zu einem drastischen Rückgang der spirituellen Praxis. Der Trend zum säkularen Leben verstärkte sich insbesondere mit dem Übergang zu einer kommunistischen Staatsform in den 1950er Jahren: Da religiösen Vereinigungen großes Potential zur Unterminierung der Partei innewohnt, war es aus machtpolitischen Gründen von entscheidender Bedeutung, deren Einfluss auf die Bevölkerung zu minimieren. Im Zuge der Kulturrevolution predigte Mao gar die Zerschlagung althergebrachter Traditionen. Tempel und Klöster wurden zerstört, die Ausübung der Religion wurde zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit.
Doch mit der wirtschaftlichen Reform und Öffnung des Landes Anfang der 80er Jahre lockerten sich sukzessive auch die Beschränkungen der Religion und heute wenden sich die Menschen auf Sinnsuche nicht nur dem Streben nach materiellem Wohlstand, sondern auch wieder der Spiritualität zu.
Es ist der erste Tag des Monats nach chinesischem Kalender. Auf dem Areal des buddhistischen Premierministertempels in Kaifeng drängen sich die Menschen, um traditionsgemäß Räucherwerk vor den Altären zu entzünden. Es sind erstaunlich viele, die hier ihrem Bedürfnis nach spiritueller Praxis nachgehen, und das obwohl der Premierministertempel vor nicht einmal dreißig Jahren noch eine dem Verfall preisgegebene Ruine war.
Einer der Mönche erzählt mir, dass das Kloster des Premierministertempels zur Zeit der Kulturrevolution (1966-1976) massive Schädigung erfahren musste. Nachdem seine größten Kulturschätze zerstört und die Mönche vertrieben worden waren, blieben seine Tore über zwanzig Jahre lang geschlossen. Erst Anfang der 90er Jahre kehrte wieder Leben ein, Gebäude wurden restauriert und die bedeutendste Statue (eine tausendarmige Guanyin-Statue aus der Qing-Zeit) wieder instand gesetzt. Mittlerweile, so schließt der junge Mönch seine Erzählung, leben hier wieder an die 100 Mönche und auch die Gläubigen kehren in wachsender Zahl wieder.
Dass dem so ist, davon kann ich mir an diesem Tag selbst ein Bild machen: Alte Männer und Frauen, aber auch junge, Mütter mit Kindern, Geschäftsleute und Studenten reihen sich vor den heiligen Statuen der Tempel und stecken qualmende Räucherstäbchen in die Opferschalen. Je dicker und länger die Stäbchen, umso stärker zählt der spirituelle Beitrag, und manche sind sogar beeindruckende 2m lang.
Neben dem Räucherwerk duften auch die gerade aufgegangenen Blüten im Klostergarten und viele Besucher verweilen noch etwas länger, um diese Oase der Ruhe innerhalb des lauten Stadtalltags zu genießen.
An diesem Tag werde ich Zeuge eines weiteren alten Brauchtums: Indem eingesperrte Tiere im Zuge einer buddhistischen Zeremonie in die Freiheit entlassen werden, leisten die Gläubigen einen besonderen Beitrag für die spirituelle Befreiung des Geistes. So löblich diese Idee aber auch klingen mag, so bedenklich ist leider oft die Realität: Bis zu fünfzig Spatzen flattern dicht zusammengedrängt in den von den Gläubigen selbst mitgebrachten Käfigen, auf deren Boden die an Erschöpfung verendeten Tieren liegen. Eine einsame Elster hat nicht einmal genug Platz um ihre Flügel zu spannen, und auch die in Plastikbottichen übereinander gestapelten Babyschildkröten sind kein vorbildliches Beispiel für artgerechte Tierhaltung.
Die abstrakte Idee einer guten Tat überstrahlt die unrühmliche Realität und verweist damit auf den eigentümlich chinesischen Charakter dieser „Rückkehr zur Spiritualität“: Sie wirkt oberflächlich und scheinhaft. Dieser Eindruck wird durch das Kommerzielle des ganzen Geschehens noch verstärkt. Allein schon für das Betreten des Tempels wird ein saftiges Eintrittsgeld verlangt, doch auch im Innern scheinen die Mönche an diesem Tag vorrangig mit nichts anderem als dem Verkauf von religiösen Artikeln beschäftigt zu sein. Auch der zum Premierministertempel gehörende Laden für Buddhastatuen und Gebetskettchen wird von Mönchen betrieben, die mit flinker Zunge zu einem „guten Geschäft“ überreden wollen. Zwischen den glänzenden Regalen ist aber immerhin ein Foto ausgestellt, auf dem zu sehen ist, wie auf die zum Verkauf stehenden Waren ein kollektiver Segen ausgesprochen wird.
Das den westlichen Besucher Irritierende an dieser Art von Spiritualität ist das Fehlen jener tiefgläubigen Andacht, die man sich bei einem buddhistischen Kloster vielleicht erwarten würde. Diese gibt es hier jedoch ebenso wenig zu finden wie unter den pro forma Besuchern einer Oster- oder Weihnachtsmesse in Europa. Das heißt aber nicht, dass die meditative Besonnenheit des „mystischen China“ nicht existiert, nur liegt sie anderswo, an abgelegeneren Orten, nicht im Herzen einer Millionenstadt.
Und doch ist auch die kommerzielle Variante der Volksreligiosität eine Form gelebter Spiritualität. Eine Spiritualität, die sogar wesentlich authentischer ist, wie die beschönigten Vorstellungen eines „mystischen China“ suggerieren mögen: Eine Spiritualität die eine Rolle im alltäglichen Leben der Normalbürger spielt.
Nicht nur in buddhistischen Tempeln wird der Monatserste (初一), wie auch der Monatsfünfzehnte (十五) feierlich begangen. Auch in die daoistischen und konfuzianischen Tempel strömen an diesen Tagen die Menschen. Interessant ist aber auch, dass mit dem steigenden religiösen Bedürfnis vor allem das Christentum immer mehr an Bedeutung gewinnt. Unterwegs in China begegnen mir immer wieder Menschen, die sich mir gegenüber als Christen zu erkennen geben. Wie mir eine junge Studentin erklärt, ist es das Gefühl der Geborgenheit im göttlichen Schoß, die allumfassende göttliche Liebe und Obhut, die sie das Christentum gegenüber den traditionellen chinesischen Religionen bevorzugen lässt.
Verhältnismäßig sind es immer noch wenige, die die neue Freiheit zur Religionsausübung nutzen. Fragt man die Menschen woran sie glauben, erhält man meistens zur Antwort: „An mich selbst.“ Das heißt, an die eigenen Fähigkeiten, Geld zu verdienen, eine Familie zu erhalten, ein Auto zu kaufen und womöglich eine Wohnung. Der Materialismus ist derzeit noch die größte sinnstiftende Instanz im Leben des Durchschnittschinesen. Doch je mehr der Wohlstand wächst, umso stärker wird auch das Bedürfnis nach spiritueller Sinngebung. Ein daoistischer Meister am Wudang-Berg fasst die momentane Entwicklung treffend zusammen: Solange die Menschen arm sind, streben sie nach Besitz und Reichtum. Aber sobald sie ein gewisses Maß desselben erreicht haben, befriedigt die Mehrung des Besitzes nicht mehr und sie beginnen nachzudenken. Sie erkennen, wie leer ihr Dasein ist, das sich ausschließlich um die materiellen Dinge dreht. Und dann ist es nicht mehr der Materialismus, sondern die Religion, welche nunmehr den Sinn des Lebens stiftet.
Diese Entwicklung kann heute schon beobachtet werden. Es ist jedoch absehbar, dass sich der Trend zu mehr Religiosität in China zukünftig noch verstärken wird.
Verfasst von Lukas Weber. Lesen Sie hier mehr von seiner Reise durch China.