Wie unser Reisereporter Lukas Weber das Erdbeben in Sichuan erlebte

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Irgendwie hatte ich im Gespür, dass ich in Sichuan ein Erdbeben erleben würde. Nur wann es genau eintreten würde, soweit konnte ich es nun doch nicht vorhersehen.

Der Tag beginnt früh. Um 6:30h bin ich munter, packe meine Sachen zusammen, und verlasse das Hotel. Schon um 6:50h sitze ich im Bus zum Bahnhof. Es ist Reisetag: Von Dujiangyan nach Chengdu, von Chengdu nach Shenzhen, von Shenzhen nach Hongkong wo ich schließlich übermorgen ankommen soll. Zu früh am Bahnhof, habe ich noch 45min bis zur Abfahrt des Zuges. Fotos sortieren, Tee trinken. Abwarten.

Die Zeit vergeht und um kurz nach 8h stehe ich am Bahnsteig. Über mir wölbt sich das gigantische Dach dieses architektonischen Verbrechens, das als Bahnhof für Hochgeschwindigkeitszüge sowohl kapitalistische Moderne als auch kommunistisches Machwerk in einem verkörpert. Dick wie Fabriksschlote ragen die weißen Trägersäulen nach oben und plötzlich – beginnt das ganze Konstrukt zu schaukeln und zu wackeln. Unter meinen Füßen rumort es als fräße ein kolossaler Regenwurm sich direkt unter mir durchs Erdreich.

Es geschieht alles so plötzlich, dass mir für eine realistische Einschätzung des Geschehens die Zeit fehlt. Ich registriere, wie einige nahebei stehende Personen desorientiert davonzulaufen beginnen. Wovor? Dem Regenwurm? Aber vor allem: Wohin? Der Bahnsteig misst mindestens 500m vom einen Ende zum andern und ich stehe genau in der Mitte. Dass ich die hundert Meter unter zehn Sekunden laufen konnte ist auch schon ein Weilchen her und darum bleibe ich stehen und hoffe, dass die Häßlichkeit der Architektur über mir ein Kompromiss zugunsten ihrer Robustheit war.

Ich stehe schwer unter Adrenalin. Mein erstes Erdbeben! Herzklopfen. Ohrensausen. Große Erregung! – Die jedoch kein Mensch auf diesem Bahnsteig mit mir zu teilen scheint. Gelassen kehren die Leute an ihre vormaligen Plätze zurück, zücken ihre Handys und beginnen zu telefonieren. Ich werde indessen weiterhin mit Fragen konfrontiert, die im Hinblick auf die Situation noch eine Spur bedeutungsloser scheinen wie sonst: Ob ich hier in Dujiangyan als Englischlehrer anfangen möchte, sie suchten gerade wen… Bin ich im falschen Film? Hallooo…? Erdbeben…?!
Doch mein Gesprächspartner ist die Ruhe selbst und nur mit Mühe gelingt es mir, ihn überhaupt auf das Beben zu sprechen zu bringen: Es sei kein starkes Beben gewesen, höchstens Stufe fünf; so etwas käme jedes halbe Jahr in Sichuan einmal vor.

Natürlich hat dann der Zug Verspätung. Natürlich vorerst nur zwanzig Minuten. Natürlich mache ich mir jetzt noch keine Sorgen darüber, ob ich meinen Anschluss in Chengdu erwischen werde. Natürlich wird der Zug nach zwanzig Minuten gecancelt. Natürlich rennen nun alle in dieselbe Richtung davon und natürlich ist ihr Ziel der Busbahnhof, wo sich nun eine ganze Zugladung von Menschen in einen Minibus mit 30 Sitzplätzen zu quetschen gedenkt. Dies ist (natürlich) der Moment, wo meine Sorgen bezüglich des Anschlusszuges sich melden.

Gedränge am Zugbahnhof in Chengdu

Gedränge am Zugbahnhof in Chengdu

Ungeachtet meines schweren Rucksacks, sprinte ich auf das einzige Taxi zu, das trostlos auf dem titanisch großen Bahnhofsplatz steht. Mein Plan ist, den Busbahnhof vor allen andern zu erreichen, die momentan noch mit der Rückgabe ihres Zugtickets okkupiert sind. Doch das Taxi fährt nicht zum Busbahnhof. Es ist schon vergeben. Es fährt nach: Chengdu! Und ein Sitzplatz ist noch frei!

Euphorisiert von so viel Glück, vergesse ich ganz den Fahrpreis auszuhandeln. Als es mir dann in den Sinn kommt, sind wir schon unterwegs, doch der Fahrer ist gnädig und verlangt nur 50% mehr als üblich. Es kümmert mich nicht, Hauptsache ich erwische den Anschlusszug. Meine drei Wegbegleiter haben dasselbe Problem und so rasen wir dahin in Richtung Chengdu.

Im Radio geht es mittlerweile um nichts anderes als das Erdbeben (wenigstens die Medien teilen meinen Fokus) und wir erfahren, dass es Stufe sieben hatte und sich in Ya’an, Lushan County ereignete, das in etwa 200km weit entfernt liegt. Soweit bisher bekannt, soll es kaum Schäden geben, aber ich erinnere mich, dass man das anfangs auch bei dem großen Beben 2008 behauptete.

Chengdu. Ich beginne mich zu entspannen. Noch zwei Stunden bis der Zug fährt und ich stehe bereits in der U-Bahnstation von wo es noch dreißig Minuten Fahrt bis zum Bahnhof sind. U-Bahn kommt. Ich steige ein. Und… stehe just wieder vor demselben Schulmädchen mit dem ich am Bahnhof von Dujiangyan ein paar Sätze gewechselt hatte! Solche Zufälle passieren selten in China. Wir unterhalten uns während der U-Bahnfahrt und ich muss erfahren, dass auch sie von dem Erdbeben nicht sonderlich beeindruckt ist. Ihre größte Sorge im Moment ist rechtzeitig zur Mathematikprüfung in die Schule zu kommen.

Als ich am Bahnhof ankomme und vor dem Ticket-Rückgabeschalter eine riesige Menschenansammlung vorfinde, ahne ich Schlimmes. Wider Erwarten wurden nicht nur die Hochgeschwindigkeitszüge, sondern alle Züge bis auf weiteres angehalten, da man eine Beschädigung der Schienen befürchtet. Sicher ist sicher, und damit an diesem Tag nicht auch noch ein Zugunglück geschieht, heißt es ein weiteres Mal: Abwarten.

Ich bin einer von vielen, die auf dem Bahnhofsvorplatz auf die Wiederaufnahme des Reiseverkehrs warten. Ein-, zweimal geht das sanfte Zittern eines Nachbebens durch die Erde, doch die Stadt lässt sich davon nicht aus ihrem Trott bringen, die den Alltagsbetrieb längst wieder aufgenommen hat.

Nur die gestrandeten Zugreisenden auf dem Bahnhofsvorplatz werden mehr und mehr, und wie viele hoffe ich, dass mein Zug überhaupt fährt und nicht schlichtweg gecancelt wird. Soweit ich weiß, bieten Eisenbahnen keine gratis Hotelübernachtungen.

Nach einer Stunde treibt mich die Nervosität ins Bahnhofsinnere. Anstatt sinnlos vor dem Bahnhof zu sitzen, sitze ich nun sinnlos im Bahnhof. Doch das Blinken meines Zuges auf der Anzeigetafel beruhigt mich. Vier Stunden lang passiert nichts. Vier Stunden lang steht „ein bisschen verspätet“ neben meinem Zug auf der Anzeigetafel. Dann plötzlich wird die Anzeige schwarz. Muss ich betonen, dass das ein schlechtes Zeichen ist?

Eine weitere Stunde passiert: nichts. Immer mehr Menschen warten auf ihre Züge, von denen unsicher ist, ob sie heute noch fahren werden. Ob sie überhaupt fahren werden. Niemand weiß Genaues, selbst das Personal nicht.

Und schließlich erfolgt die alles entscheidende Lautsprecherdurchsage: „Liebe Reisende, Achtung, Achtung! Der Zug mit der Nummer XY ist nun…“ (Trommelwirbel) „…zur Abfahrt bereitgestellt.“

Endlich geht’s weiter! Von überall springen die Leute auf und eilen zur Ticketkontrolle. Auch mein Zug erscheint wieder auf der Anzeigetafel und nun muss ich nur noch die Lauscher spitzen, damit ich die Durchsage zur Abfahrt nicht verpasse. Als es schließlich weitergeht, ist die Ursache der Verspätung beinahe vergessen. Genaue Informationen über das Erdbeben werden ohnehin erst in den nächsten Tagen verfügbar sein und im Moment überwiegt die Erleichterung bezüglich der Wiederaufnahme des Reiseverkehrs.

Mit nicht einmal viereinhalb Stunden Verspätung geht die Fahrt weiter. Noch 38h bis zur Ankunft in Shenzhen. Wieder einmal heißt es an diesem Tag: Teetrinken. Abwarten. Doch anstatt sinnlos am Bahnhof, warte ich nun sinnlos im Zug.

Ein Erdbeben der Stufe 7 erschütterte letzten Samstag die Provinz Sichuan, gefolgt von einer Vielzahl verheerender Nachbeben. Die Katastrophe forderte bislang 196 Menschenleben, weitere 21 Menschen gelten noch als vermisst. Mittlerweile sind die Straßen in der südwestchinesischen Provinz weitesgehend geräumt und Hilfsgüter finden ihren Weg in die am stärksten zerstörten Gegenden wie Baoxing und die Gemeinde Lushan.

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