Die kaum in Worte zu fassende Schönheit des Naturschutzparkes Jiuzhaigou macht ihn zu Recht zur meistbesuchten Touristendestination der Provinz Sichuan. Doch im Gedränge der Besuchermassen bestätigt sich auch jenes Sprichwort, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht.
Verfasst von Lukas Weber
Wenn es das Paradies auf Erden gibt, so ist das Neun-Dörfer-Tal (chinesisch: JIUZHAIGOU 九寨沟) einer der heißesten Anwärter auf diesen Titel. Auf einer Fläche von 72.000 Hektar breitet sich im Norden der Provinz Sichuan eine Landschaft von malerischer Schönheit aus, deren Antlitz die Reisenden zu jeder Jahreszeit mit einem eigenen Flair bezaubert. Im Frühling blühen die Wildblumen und Bäume an den Hängen des Tales und im Sommer strömt das Wasser in Fülle über die terrassierten Fälle. Die satten Farben welken Laubes bilden im Herbst einen vollkommenen Kontrast zu den türkisfarbenen Seen und im Winter erstarren die Wasserfälle zu Eis und verwandeln Jiuzhaigou in ein Märchenland.
Die Heimat von wildlebenden Pandas und Goldstumpfnasenaffen war bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts kaum zugänglich und völlig unbekannt. In den neun Dörfern, die dem Tal seinen Namen geben, lebten knapp 1000 Personen tibetischer Herkunft, Anhänger des Bön-Buddhismus, der eine Verbindung von Buddhismus mit dem einst in Tibet vorrangigen Bön-Schamanismus darstellt. Seit den 80er Jahren begann die Entwicklung Jiuzhaigous als Touristendestination und seit das Naturschutzgebiet 1992 in die Liste des UNESCO Weltkulturerbes aufgenommen wurde, wuchs die Zahl der Besucher unaufhaltsam.
Heute gilt Jiuzhaigou als die Hauptattraktion der Provinz Sichuan und als eine der meistbesuchten Touristendestinationen ganz Chinas. Im Jahr 2012 wurde das Gebiet von 3.63 Millionen Menschen besucht. Das sind durchschnittlich knapp 10.000 Besucher pro Tag, wobei an nationalen Feiertagen, wie dem Staatsfeiertag Anfang Oktober, zwischen 30.000 und 50.000 Besucher täglich verzeichnet wurden.
Aus Erfahrung bin ich nicht sonderlich erpicht darauf, mich durch die Touristenmassen von einem Fotografierpunkt zum nächsten zu schieben. Aber nachdem seit meiner Ankunft in Sichuan kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht gefragt wurde, ob ich Jiuzhaigou schon besichtigt hätte, nehme ich schließlich die 400km lange Anreise von Chengdu auf mich.
Wie nicht anders erwartet, erweist sich das Dorf am Eingang zum Naturschutzgebiet als eine Ansammlung von Hotels, Souvenirläden und überteuerten Restaurants. Auch für das Ticket lasse ich einen ordentlichen Batzen Geld liegen und quetsche mich in einen der Busse, die die Touristen etappenweise durch das 50km lange, Y-förmige Tal kutschieren. Auf insgesamt 70km Holzplanken kann die landschaftliche Schönheit des Tales auch zu Fuß besichtigt werden – doch an einem einzigen Tag ist dies nur abschnittsweise möglich.
Am Tigersee, der ersten Haltestelle, steige ich aus dem Bus, doch die Sicht auf den See wird von den Besuchermassen auf der Aussichtsplattform versperrt. Dabei ist weder Hauptsaison noch Wochenende. Während die meisten Touristen wieder in den Bus steigen um zur nächsten Sehenswürdigkeit zu fahren, schlage ich den Holzplankenweg auf der gegenüberliegenden Uferseite ein und befinde mich unerwartet in beschaulich ruhiger Naturatmosphäre. Zu meiner Linken grünt dichter Wald, zu meiner Rechten glänzt der See in schönstem, sattestem Türkis. Das Wasser ist so klar, dass man meterweit auf den Grund sehen kann. Stellenweise ragen von Gras überwucherte, tote Baumstämme aus der spiegelglatten Oberfläche, die wie kleine Inseln auf dem Wasser zu schweben scheinen. Nicht viele Menschen begegnen mir auf der 6km langen Strecke vom Tigersee zum Rhinozerossee und sie alle begegnen der sagenhaften Schönheit der Natur mit respektvoller Ruhe.
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Schließlich erreiche ich den Nuorilang-Fall, eine der Hauptsensationen des Parkes. Bis an den Rand der 320m breiten Felskante stehen die Bäume, und zwischen ihnen strömt das Wasser in einzelnen Strahlen über den senkrechten Fels herab. Die ästhetische Vollkommenheit in der sich die Natur hier offenbart, lässt den Gedanken an einen göttlichen Urheber dieses Meisterwerkes nicht abwegig erscheinen. Der Nuorilang-Fall ist eine Augenweide, die nur ungenügend mit Worten beschrieben werden kann und doch ist er nicht das sensationellste Erlebnis des heutigen Tages.
Von den 114 Seen und 17 Wasserfällen, mit denen Jiuzhaigou dem Besucher aufwartet, ist einer schöner als der andere. Zu den beeindruckendsten Schmuckstücken dieses Naturschatzes zählen unter anderem der Pandasee und sein 78m hoher Panda-Wasserfall, der Bambuspfeilsee an dem Szenen des Filmes „Hero“ gedreht wurden, sowie der 310m breite und 28m hohe Perlenwasserfall. Eine Besonderheit Jiuzhaigous stellen der fünf-Blumen-See und der fünf-Farben-See dar, deren Wasser in den Farben Türkis, Weiß, Schwarz, Gelb und Grün schimmern. Wem das alles noch nicht genug ist, kann den Schilfsee bestaunen, durch den sich wie ein seidenes türkisfarbenes Band, ein Fluß klaren Wassers zieht. Und nicht zuletzt, sind die neun Dörfer des Tales einen Besuch wert.
Die Farbenpracht und Fülle der landschaftlichen Sehenswürdigkeiten in Jiuzhaigou ist zweifellos einmalig. Doch das unverfälschte Naturerlebnis wird durch die Touristenmassen merklich unterminiert.
Wer bereits einmal die Majestät der Natur, beispielsweise an einem stillen Bergsee in einem menschenleeren Alpental, erlebt hat, den wird Jiuzhaigou nur teilweise so sehr beeindrucken wie die abertausenden von Stadtchinesischen, die hier ihre erste Begegnung mit Natur erfahren. Jiuzhaigou ist schön, aber ob der Aufwand gerechtfertigt ist, der darum betrieben wird, ist eine andere Frage. Den Genuss, den ein abgeschiedenes Bergtal einem Naturfreund bieten kann, findet man hier weder in den überfüllten Bussen oder dem Gedränge auf den Aussichtsplattformen, noch im Hotel, wo das beständige Hupen der unaufhörlich an- und abreisenden Autos und Busse einem schon um sechs Uhr früh den Schlaf raubt.
Zuletzt will der Einfluss des Tourismus auf die ursprünglichen Bewohner Jiuzhaigous bedacht sein. Den in diesem Tal ansässigen Menschen ist aus Naturschutzgründen seit den 80er Jahren das Betreiben von Landwirtschaft verboten. Sie mussten ihre althergebrachte Lebensweise aufgeben und leben heute vom Verkauf von Souvenirs. Was die Tierwelt angeht, so sind die Bestände der seltenen Arten in dieser Gegend rückläufig, und am Pandasee, der seinen Namen von den einst hier ihren Durst löschenden Pandas erhielt, wurden schon seit Jahren keine Pandas mehr gesichtet.
Trotzdem müssen auch die musterhaften Bemühungen der Parkleitung erwähnt werden: Entlang der Wege ist kein kleines bisschen Abfall zu finden, keine Plastikflaschen treiben in den Seen und die Sanitäranlagen sind so konstruiert, dass das Abwasser der vielen Besucher nicht ins Ökosystem gelangt. Dank dieser Maßnahmen wird die Schönheit Jiuzhaigous trotz des Massentourismus auf unbestimmte Zeit erhalten bleiben und noch Generationen von Besuchern erfreuen können.
Wer mit den richtigen Erwartungen hierher kommt, dem wird die Enttäuschung über den regen Trubel erspart bleiben. Um schöne Fotos zu schießen lohnt sich die Reise in jedem Fall – und lassen sich die Besuchermassen getrost ausblenden.
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