Die studierte Sinologin Susanne Brudermüller ist seit 1982 immer wieder in China unterwegs. In diesem Reisebericht erzählt sie von ihren kulinarischen Erlebnissen in Chongqing.
Verfasst von Susanne Brudermüller
Chongqing war Ausgangspunkt für unsere Kreuzfahrt auf dem Yangtze. Nach einer Woche auf dem Fluss und einigen Landpartien nach Fengdu, an den Drei-Schluchten-Staudamm und nach Nanjing würden wir Shanghai erreichen. Shanghai hatte ich mir als Ziel gewünscht. Die Stadt ist mein Favorit in China. So entschieden wir für uns die „Langversion“ der Yangtze-Kreuzfahrt.
Der Moloch Chongqing, die größte Stadt der Welt mit 32 Millionen Einwohnern, mit den uniformen und gesichtslosen Hochhäusern auf dem Weg vom Flughafen zum Hilton-Hotel, übte auf mich keine besondere Anziehung aus. Ich war enttäuscht, weil uns hier wohl kein Fest der Sinne und Farben erwarten würde.
Auf den letzten Kilometern bis zum Hilton-Hotel ging mir plötzlich das Herz auf. Da war es also noch, das China, wie ich es kannte und es mich fasziniert hat, als ich vor 30 Jahren das erste Mal dort war. Umtriebig, farbenfroh, laut, voller Leben und keineswegs so blank poliert, wie sich das moderne China oft präsentiert. Ganz nah beim Hotel überall Geschäfte und Restaurants. Das Leben spielte sich weitgehend draußen ab. Bestimmt konnte ich in diesen Straßen so chinesisch essen wie damals in der Frühstücksgasse in Shanghai, wo es Baozi auf die Hand und heiße Jiaozi in Garküchen gab. Die sind dort heute verschwunden. Im Hilton eingecheckt und das Nötigste für eine Übernachtung ausgepackt ging es gleich los - zu Fuß. Weit weg war plötzlich die Moderne.
Marktstände mit Äpfeln, Ingwerwurzeln, Frühlingszwiebeln und xiao baicai, besser bekannt als Pak Choi, zogen uns nur für kurze Zeit an. Wir wollten essen. Wir befanden uns in der Provinz Sichuan, auch wenn Chongqing als regierungsunmittelbare Stadt administrativ nicht mehr zu Sichuan gehört, so doch kulinarisch. Die Sichuan-Küche, eine der auch bei uns in Deutschland bekannten Regionalküchen Chinas, zeichnet sich durch besondere Schärfe aus. Reichlich Chili, weißer Pfeffer und der Sichuan-Pfeffer sind die „Verursacher“. Knoblauch und eingelegtes Gemüse werden in Sichuan besonders gern gegessen. Die frischen Zutaten hatten wir auf dem Markt gesehen. Dass der Feuertopf die Spezialität Chongqings ist, war nicht zu übersehen. Sämtliche Lokale boten ihn an.
Einladend nach unserem europäischen Verständnis sah keines der Lokale aus. Die chinesischen Familien aßen auf Plastikhockern im Freien, gekocht wurde ebenfalls im Freien. Überall standen Eimer und Töpfe herum. In welches Lokal sollten wir gehen? Wir wählten das Lokal, von dem wir glaubten, dass es von besonders vielen Gästen besucht wird und damit vermutlich den besten Feuertopf hatte. Leicht war das nicht festzustellen. Feuertopf hätten wir gepflegt auch im Hilton-Hotel essen können. Stattdessen wollten wir ihn möglichst ursprünglich genießen.
Wir gingen auf den einzigen wohl gerade frei gewordenen Tisch zu. Die Schuhe pappten bei jedem Schritt. Den Boden bedeckte eine bräunliche fettig-klebrige Schicht. Auf den hellblauen Plastikhockern rückten wir uns einigermaßen stabil zum kleinen runden Tisch zurecht. Und warteten. Neugierige und belustigte Blicke kamen vom chinesischen Nachbartisch. Vielleicht fragten sich unsere Tischnachbarn, warum es uns Ausländer ausgerechnet hierher verschlagen hat.
„Liang ping pijiu“ – „zwei (Flaschen) Bier“. Damit begannen wir auch hier unsere chinesische Mahlzeit. Weitere Bestellungen waren zunächst nicht nötig. Der Kellner brachte ein Becken aus Alu mit siedendem sehr rotem Öl und passte es in das Loch in der Mitte unseres Tisches ein. Vorher hatte er dafür gesorgt, dass das Öl auch weiterhin so heiß blieb. Die Gasflasche mit dem kleinen roten Schlauch unter unserem Tisch beruhigte mich nicht. Unser Bier kam und der Kellner war schon beim nächsten Tisch. Eine Auswahl an Gargut schien an die Tische gebracht zu werden und die Gäste wählten aus. Was üblicherweise und in diesem Lokal bei einem Feuertopf gegessen wird, wussten wir nicht.
Ich bat den Kellner, uns zu helfen und uns etwas zu empfehlen. „Helfen und empfehlen“ – das verstand er nun wirklich nicht. Kein sprachliches Problem, sondern ein Grundsätzliches und Kulturelles. Chinesische Gäste sind mit den Gepflogenheiten eines Feuertopfs ja bestens vertraut. Einen Feuertopf zusammen mit Chinesen zu essen wäre unkomplizierter gewesen. Wir ließen uns zum Kühlschrank mit den Glastüren führen und wählten Gemüse, Fisch und Fleisch aus. Beim Gemüse und Fisch das, was uns am besten gefiel. Beim Fleisch halfen uns wenigstens die Fleischarten, nach denen ich den Kellner gefragt hatte. Mit Schweine- und Hühnerfleisch fühlten wir uns einigermaßen sicher. Nun kam der Feuertopf endlich in Gang. Eine wässrige Suppe, Gewürze, rote Pasten und die Zutaten, die wir ausgewählt hatten, standen auf dem Tisch. Auf dünne lange Holzstäbchen aufgespießt garten Fleisch, Fisch und Gemüse im Öl. Das Öl brodelte. Im Vorbeigehen regelte der Kellner die Temperatur unserer Gasquelle.
Der erste Bissen – nach einer kleinen Abkühlphase – in eine der Soßen getunkt, nahm mir die Luft. Der Schweiß strömte augenblicklich. Jetzt bloß kein Bier. Reis milderte die fast unerträgliche Schärfe etwas. Was rot aussah, waren die im heißen Öl schwimmenden unendlich vielen kleinen Chillischoten. Der Feuertopf heißt in Chongqing nicht zufällig ma la gou – „sehr scharfer Feuertopf“.
© Susanne Brudermüller M.A.