Unser Mitarbeiter Timur Tatlici war in China unterwegs. In seinem mehrteiligen Reisebericht erzählt er von seinen Erlebnissen und Eindrücken in der Provinz Guizhou. An Tag 2 hat er das Tianlong Tunbao Dorf und die Zhijin Höhlen besichtigt. Was er an Tag 1 erlebt hat, erfahren Sie hier.
Mein Lager bleibt auch am heutigen Tag in Guiyang aufgeschlagen. Gestärkt vom sehr guten internationalen Frühstücksbuffet des Hotels verlasse ich auf der Autobahn die Stadt und nach etwa einer Stunde erreiche ich ein ganz besonderes Dorf. Tianlong Tunbao gehört zu einer Reihe von alten Orten, die vor rund 600 Jahren gegründet wurden, als der damalige Kaiser ganze Heerscharen in den Süden verlegen ließ. Die Soldaten gründeten wehrhafte Dörfer und wurden sesshaft. Ihre Traditionen und Bräuche aus der Ming Dynastie konnten Sie in der abgeschiedenen Provinz Guizhou sehr lange bewahren. Noch heute sieht man einige ältere Menschen in den Trachten der Ming-Zeit und auch der eine oder andere Brauch ist noch lebendig. Zum Beispiel eine spezielle Form der Oper, aber dazu gleich mehr.
Am Eingang zum Dorf bekam ich zunächst einen mittleren Schock. Ein großer Parkplatz und ein bombastisches Eingangstor für die Gäste ließen Schlimmes befürchten. War ich hier in einem Pseudo-Dorf für Touristen gelandet? Mit einem Wägelchen für Touristen ging es zunächst in ein kleines Museum, in dem die Kultur dieser Dörfer dargestellt wurde. Ohne Frage schön gemacht. Alte Fotos, hübsch ausgeleuchtete Ausstellungsstücke etc. Aber ich will die Realität. Und die gibt es tatsächlich.
Das Dorf ist zwar wirklich recht touristisch, d.h. es gibt einige im alten Stil errichtete Neubauten, die z.B. Cafés oder Gasthäuser beherbergen, doch hier leben noch ausreichend „wirkliche“ Einwohner, um den Eindruck eines authentischen alten Dorfes zu erwecken.
Einige der Häuser sind uralt und lassen erkennen, dass dieses Dorf einst angelegt wurde, um gegen Feinde gehalten zu werden. Die schmalen, labyrinthischen Gassen waren leicht zu verteidigen. Mir macht es riesige Freude durch die Straßen zu streunen, die interessanten Speisen der Garküchen zu bestaunen und an jeder Ecke hübsche Fotomotive zu entdecken. Die Menschen erscheinen von den Reisenden noch nicht genervt bzw. übersättigt zu sein. Insbesondere die alten Damen, die einen kleinen Tempel beaufsichtigen, haben noch sichtlich Freunde daran, mich als Langnase dazu zu bringen, eine Gebetskerze anzuzünden. Auch die vielen Kinder blicken mich (oder eher meine blonden langen Haare) verblüfft und freudig an.
In diesem Dorf wird eine Form der Oper am Leben gehalten, die auf der UNESCO Liste des immateriellen Welterbes steht. Mit Peking-Oper hat das Ganze aber nichts zu tun. Weder gibt es eine Bühne – die Darsteller spielen zu ebener Erde und wurden traditionell von den Zuschauern umringt, – noch gibt es Musikinstrumente außer Trommeln. Zu den Trommeln tanzen die Darsteller in bunten Kostümen, die Gesichter von mystischen hölzernen Masken verdeckt, und singen alte Geschichten. Ich lasse mir sagen, dass es meist Geschichten über die alten Generäle und Soldaten sind, die einst hierher kamen. Mich erstaunt, mit wieviel Spaß die Tänzer agieren, obwohl sie die Show sicherlich häufig für Touristen abziehen. Dazu gehören auch kleine Sticheleien zwischen Tänzern und einer am Rande stehenden Reiseleiterin, die zu zahlreichen Lachern führen.
Nach einem Mittagessen verlasse ich dieses sympathische Dorf. Es ist eine kleine Oase alter Zeiten, inmitten der modernen Welt. Wenn man etwas aus dem Dorf hinausgeht und vom Hügel über die alten Dächer blickt, kann man in nicht allzu großer Ferne die Autobahn und die Gleise der Hochgeschwindigkeitszüge entdecken…
Ich sitze schon wieder im Bus und rolle über die Autobahn. Eigentlich finde ich Autobahnfahrten nicht nur langweilig, sondern bin froh, wenn sie wieder vorbei sind. Zu anstrengend und zu gefährlich erscheint mir oft der Verkehr. Nicht so in Guizhou. Die Autobahnen führen durch zumeist schöne bis spektakuläre Landschaften und der Verkehr ist sehr überschaubar. Daher bin ich fast unglücklich, als wir kurz hinter einer gewaltigen Hängebrücke von der Autobahn abfahren und wir den Schlangenlinien einer Landstraße folgen. Nach wenigen Minuten ist das Ziel dann aber auch schon erreicht.
Das heißt – beinahe. Vom Parkplatz geht es zunächst über einen großen Platz mit zwei künstlichen Wasserfällen in ein großes Eingangsgebäude. Und dann geht es noch ein bisschen weiter. Und weiter. Und weiter. Und plötzlich steht man vor einem unscheinbaren Häuschen. Und dahinter erstreckt sich etwas, für das mir einfach die Worte fehlen. Ungewollt entfahren mir ständig unartikulierte „Waaahhhs“. Ich bin in der Zhijin Höhle. Nein, eigentlich bin ich bislang nur im Eingangsbereich, doch der ist schon so gewaltig wie man es höchstens aus Dokumentationen im Fernsehen kennt. Irgendwo über mir erstrecken sich große Löcher. Das sind die Eingänge. Sie sind so groß, dass Bäume durch sie hindurch wachsen. Aber im Vergleich zur Höhlendecke sind die geradezu winzig.
Weiter geht es. Ich folge einem sehr gut ausgebauten Weg und staune über immer bizarrer werdende Stalagmiten und Stalaktiten. Der Reiseführer wird nicht müde auf Formen hinzuweisen, die an dieses oder jenes erinnern. Mir fehlt hier oft die nötige Fantasie, aber an der einen oder anderen Stelle entdecke sogar ich Erstaunliches. Ein Stalagmit sieht aus wie ein Tannenbaum, einer wie eine Qualle und ein besonders gewaltiges Exemplar sieht aus wie ein überdimensionierter Priester, der den Segen erteilt.
Mir verschlägt es endgültig den Atem, als wir eine der großen Hallen betreten. Schließlich gibt es hier nicht nur eine Halle, sondern gleich ein ganzes Netzwerk aus Kathedralen. Über 200 Meter Länge erstreckt sich dieses Meisterwerk der Natur. Bis zu 60 Meter ist die Decke hoch. Obwohl der Guide in der Höhle manchmal Unfug redet, glaube ich ihm aufs Wort, dass dies die größte Karstberghöhle der Welt ist. Die Zwerge aus Tolkiens „Herr der Ringe“ hätten sich hier unzweifelhaft wohl gefühlt.
Anderen Besuchern verschlägt es ebenfalls den Atem. Allerdings nicht nur wegen des Anblicks, sondern weil man hier drinnen ein bisschen sportlich sein sollte. Es sind ganz schön viele Treppen, die es auf und ab geht. Angeblich hat allein der längste der Aufstiege 447 Stufen. Unzählige kleinere Anstiege nicht eingerechnet. Doch ich habe selten mit so viel Begeisterung Kalorien verbrannt wie heute.
Ich verlasse die Höhle durch einen anderen Weg als ich sie betreten habe. Bis vor einiger Zeit hätte ich den ganzen Weg wieder zurückgehen müssen. Vor wenigen Jahren entdeckte man aber, dass es einen weiteren Zugang gibt. Man hat diesen verbreitert, so dann ich aufrecht hindurch gehen kann. Und dann bin ich tatsächlich wieder draußen. Schade eigentlich. Vielleicht sollte ich trotz des neuen Zugangs zurückwandern? Ich lasse es sein und werde von einem Touristenmobil zurück zum Ausgangspunkt gefahren. Das Wägelchen fährt und fährt. Erst jetzt wird mir bewusst, wie weit mich der Weg unter der Erde geführt hat.
Man sagt: Wer die Zhijin Höhle gesehen hat, muss keine andere Höhle auf der Welt mehr sehen. Könnte sein. Außer vielleicht Höhlen, die mit Wasser gefüllt sind, denn die Zhijin Höhle hat keine unterirdischen Seen oder Flüsse zu bieten. Vielleicht sollte ich noch einen Abstecher zum Long Gong, dem Drachenpalast machen! Diese Höhle kann sogar mit Booten befahren werden und befindet sich ebenfalls in der Provinz Guizhou…
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