Eine vielleicht gewagte Meinung besagt, dass es in China nur sehr wenige Städte gibt, die sich wirklich von einander unterscheiden, die meisten Städte hingegen doch ziemlich ähnlich seien. Wenn ich diese Meinung annehme, dann müsste wahrscheinlich auch Weifang zu diesen sich gleichenden Orten gehören. Weifang? Wo ist das? Eine Stadt, die den wenigsten China-Reisenden ein Begriff ist oder jemals auf dem Reiseplan stehen wird. Und auch mit ihren knapp neun Millionen Einwohnern besticht Weifang jetzt auch nicht gerade durch seine Größe – zumindest nicht für chinesische Verhältnisse. Und dennoch ist Weifang in einer bestimmten Szene ein Begriff: der Drachen-Szene. Gemeint sind Flugdrachen.
Was heute der allgemeinen Unterhaltung dient, hatte bei seiner Erfindung in China vor knapp 3000 Jahren einen ganz anderen Zweck. Sie dienten dem Militär und wurden sowohl zur Eroberung des Feindesland als auch zur Verteidigung eingesetzt. Meist mit Flöten oder Glockenspielen ausgestattet sollten sie durch den wehenden Wind Klänge erzeugen, die Feinde abschreckten. Auch dienten sie als Leuchtsignale, wenn an ihnen eine Fackel befestigt wurde; aber es wird auch von Soldaten berichtet, die mit Drachen in die Lüfte stiegen, um die Gegend auszukundschaften. Erst in der Tang-Zeit von etwa 618 bis 907 erreichten die Drachen auch die Gesellschaft und ihre Nutzung wandelte sich von der militärischen Verwendung hin zur Unterhaltung. In der Song-Dynastie (960 bis 1279) entwickelte sich das Bauen eines Drachen zu einem richtigen Beruf. Wichtigste Materialien waren dafür sowohl Bambus als auch Seide, die später durch Papier ersetzt wurde.
Heute hat er seine militärische Funktion verloren und ich verbinde ihn eigentlich nur noch mit meinen Kindertagen, als wir mit der Grundschule einmal im Jahr zum See gingen, um dort unsere Drachen steigen zu lassen. Wer sich aber für die Geschichte der Drachen interessiert, für den ist das Weifang World Kite Museum auf dem Kite Square (风筝广场) die richtige Adresse.
In Weifang werden Kinderträume wieder wahr, wenn einmal im Jahr (meist vom 20. bis zum 25. April) das International Kite Festival stattfindet. Während des Festivals finden verschiedene Konzerte statt und überall in der Stadt lassen Jung und Alt ihre Drachen steigen. Die meisten allerdings auf einer vorgelagerten Festwiese, die mit Bussen erreichbar ist. Einfach im Hotel fragen, die wissen Bescheid. Einmal angekommen folgt man einfach nur den Strömen. Wer keinen Drachen mitgenommen hat, so wie ich 2014, der kauft sich einfach hier einen und dann heißt es ab ins Getümmel. Hier habe ich dann auch erkennen müssen, wo der Unterschied zwischen Fahrradfahren und Drachensteigen liegt. Das eine verlernt man nie wieder, das andere jedoch schon.
Wirklich hoch habe ich meinen Drachen nicht bekommen, aber die Profis beeindrucken mit ihren mehrstöckigen Drachen oder auch anderen kuriosen Gebilden, die sie wacker in die Lüfte steigen lassen. Besonders beeindruckend war ein Drache, tatsächlich in Form eines mehrere Meter langen Drachen, der voller Leichtigkeit im Himmel schwebte. Mit einer Beschäftigungstherapie für Kinder hat dies hier freilich nichts mehr zutun. Natürlich versuchen auch die jungen Chinesen hier ihr Geschick, aber ein Großteil der Drachensteiger sind Erwachsene aus der ganzen Welt.
Der Drache steht für Weifang, wie für keine andere Stadt in China. Das wird jedem klar, der einen Bummel durch die Stadt macht. An jeder Straßenecke kann man Drachen kaufen – in allen Größen. Die einen sind tatsächlich flugfähig und manche auch nur für die Vitrine als eine schöne Erinnerung an das Drachenfest. In den normalen Läden findet sich aber auch meist Touristenware, die nicht viel Geld kostet. Wer hingegen einen handwerklich gefertigten Drachen sucht, der muss ins Taxi steigen und etwas fahren.
Yangjiabu (杨家埠风筝厂) heißt der Ort etwas außerhalb vom Stadtzentrum, wo sich viele Drachenbauer niedergelassen haben. Auf der ganzen Straße gibt es sowohl günstige Massenproduktionen, aber auch Werkstätten, wo den Kunsthandwerkern zugeschaut werden kann, wie die Drachen gemalt und zusammengebaut werden. Aber allein, um die Vielzahl an verschiedenen Drachen zu bestaunen, lohnt sich ein Ausflug.
Zugegebenermaßen steht der Eindruck des traditionsreichen Handwerks zuweilen hinter der Kommerzialisierung, aber dennoch lohnt es sich, den Meistern bei ihrer Arbeit über die Schultern zu schauen. Hier kann auch nicht mehr so viel gehandelt werden, wie im Rest des Landes. Auch ein Zeichen dafür, dass hier keine Produktion stattfindet, wo der Preis über die Masse verdient wird, sondern es handelt sich um handbemalte Einzelstücke. Ich habe mir hier gleich zwei Drachen gekauft. Einmal einen Phönix und dann einen Drachenkopf, der einen mindestens drei Meter langen Schweif nach sich zieht. Zum Fliegen eigentlich fast zu schade!
Weifang ist ein schönes Beispiel dafür, dass zunächst unscheinbare Städte doch auch einen gewissen Reiz haben. Sicher: Eine Reise nach Weifang muss vor dem Hintergrund des Flugdrachen stattfinden, aber er gehört eben auch zur chinesischen Geschichte und Kultur. Und noch ein schönes Schmankerl ist, dass man hier auch mal das China neben den großen Megacites Shanghai, Beijing, Hongkong usw. kennenlernt. Also auf nach Weifang. Am besten während des Festivals. Ob man auch seinen Drachen in die Lüfte steigen lassen oder einfach nur die Variationen bestaunen und etwas über die Geschichte des Flugdrachen lernen möchte: Weifang!