Wenn Shanghai das Paris des Ostens ist, dann könnte man Guilin wahrscheinlich als Neapel des Ostens bezeichnen: Auf der Taxifahrt zum Hotel begegnen uns zahlreiche Roller und Vespas in allen möglichen Formen und Farben. Genau wie in Italien verkörpert die Vespa hier wohl nicht nur einen fahrbaren Untersatz, sondern ist Ausdruck eines Lebensgefühls des Laissez-faire und der unbekümmerten Lust am Dasein. Schon jetzt bieten sich mir wunderbare Fotomotive: Junge Frauen, die mit Sonnenschirmen in der Hand auf ihrem Roller sitzen und damit aussehen wie kleine Ameisen unter großen Blüten, ein Mann, der mit nacktem Oberkörper auf seinem Gefährt vorbeisaust und sich von seinem Beifahrer ungeniert den Rücken kraulen lässt.
Doch ich komme gar nicht dazu, meine Eindrücke zu sortieren, zu viel ist es, das gleichzeitig auf mich einprasselt. Zu bunt und ungewohnt für meine Augen nach den langen, gleichförmigen Monaten in Deutschland scheint das China, das sich vor meinen Augen ausbreitet. Überall sehe und höre ich Dinge, die mir für meine Reiseerfahrung irgendwie bedeutsam erscheinen, als würde ich in ein riesiges Kaleidoskop blicken, das sich in immer neuen Muster entfaltet.
Im Hostel habe ich ein wenig Zeit, um abzuschalten - meine Reisegefährtin wird erst in ein paar Stunden eintreffen (sie reist mit dem Zug aus Vietnam an, das nicht weit von der Provinz Guangxi liegt). Ich gehe ein wenig in mich. Diesmal also Mainland China, das "echte" China (nicht das von Expatriats bevölkerte und immer mehr in die Höhe wachsende Shanghai, das ich bei meinem ersten Chinabesuch kennengelernt habe). Bunte Sonnenschirme und Taxikolonnen und Street Food. Tropische Feuchtigkeit, die den Smog dahinschmelzen lässt. Mehr Reis als Nudeln, mehr Dialekt als Hochchinesisch, mehr Provisorisches als Hochglanzbauten. Werde ich mit den Leuten hier zurechtkommen, sie annähernd verstehen? Oder wird sich herausstellen, dass ich mir während meiner jahrelangen, abstrakten Beschäftigung mit dem Land nur Luftschlösser gebaut habe?
Zum Glück kommt meine Reisebegleitung endlich an und unterbricht meine ausschweifenden Grübeleien. Wir beschließen, zum Ausklang des Tages noch einen Abendspaziergang durch die Innenstadt Guilin's zu machen und unser erstes Mahl auf chinesischem Boden einzunehmen. Schon nach ein paar hundert Metern Richtung Stadtkern kommen die großartigen, hell beleuchteten "Sonne- und Mond-Pagoden" in Sicht, zwei über 40 Meter hohe Pagoden, das Wahrzeichen Guilin's. Wie bei allen buddhistischen Pagoden ist auch hier die Anzahl der Stockwerke ungerade, denn das soll Glück bringen. Es sind zwei der schönsten Pagoden, die ich je gesehen habe, mit filigran ausgearbeiteten Dachverzierungen.
Dennoch bin ich noch nicht von Guilin überzeugt. Sind das die einzigen historischen Bauten, die noch erhalten sind? Wird der Rest Guilin's von seelenlosen Apartmentblocks eingenommen, genauso wie in Shanghai? Wieder werden meine Grübeleien unterbrochen, diesmal durch einen monsunartigen Regen, der urplötzlich auf die Stadt niederprasselt. Schnell flüchten wir uns in einen kleinen Imbiss, der eine Köstlichkeit bietet, die uns nun mehr als willkommen ist: Malatang, ein "betäubend" scharfer Hotpot, der ursprünglich aus Sichuan kommt. Genau das Richtige, um unsere Geister zu beleben. In durchsichtigen Kühlschränken an der Wand lagern die Leckerbissen, die man in den scharf-sauren Hotpot tauchen kann: Fisch- und Fleischhappen, Tofu in allen Varianten, exotisches Gemüse. Ich beiße in ein Stück Lotuswurzel und die Schärfe zeigt zugleich ihre Wirkung: Meine Serotoninkanäle öffnen sich, ein Glücksgefühl überströmt mich. Kein Wunder, dass Chilischoten von Medizinern als natürliche Drogen angesehen werden.
Dann sehe ich ein Schild an der Wand und mein Glücksgefühl schwindet wieder. Ein Gesundheitszertifikat hängt dort, Wertung: C. Die Farbe des Smileys mit den herabhängenden Mundwinkeln ist genauso signalrot wie die im Hotpot herumtreibenden Chilistückchen. "Was machst du denn für ein Gesicht?", fragt meine Reisegefährtin lachend. Wortlos deute ich auf das Zeugnis an der Wand. " Ach so", lacht sie. Das muss gar nichts heißen. Ist alles nur Korruption. Wenn du kein Geld hast, kannst du dir hier eben kein schickes A-Zertifikat leisten." Ich betrachte den netten Restaurantbesitzer, der vorher ein Foto von uns gemacht hat und es nun stolz seinen Stammgästen am anderen Tisch zeigt. Er würde doch sicher keinen Lebensmittelskandal riskieren, oder? Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass die scharfe Hotpot-Suppe sicherlich nicht nur meinen Gaumen, sondern auch alle etwaigen Keime betäuben wird.
Etwas später, im Bett liegend, ziehe ich die Bilanz des ersten Tages: Stadt: nicht schlecht, Wetter: so lala, Menschen: nett, Essen: hervorragend, wenn auch mit Risiken behaftet. Aber sollte es mir gar nicht darum gehen, einen perfekten Urlaub vor traumhaft schöner Kulisse mit erstklassigem Essen zu erleben, überlege ich. Schließlich wollte ich dieses Mal ja ein authentischeres China als in Shanghai erleben. Und was wäre da eine bessere Methode, als genau wie ein Durchschnittschinese zu reisen? Schließlich können sich nur wenige Chinesen einen Luxusurlaub auf Chinas beliebtester Insel Hainan leisten. China als all-inclusive-Paket eben - mit allem, was dazugehört.
Unterkunft:
Ease Hostel, No. 7, Xin yi Road, Xiangshan District
Wer einen guten Schlaf hat und sich durch nächtliches Karaoke oder Billard in der Lobby nicht stören lässt, ist hier gut aufgehoben. Die Zimmer (manche mit toller Aussicht auf den Fluss) sind sauber und freundlich, am Morgen bekommt man ein gutes (westliches) Frühstück. Nicht irritieren lassen, wenn der Taxifahrer nicht gleich hinfindet. Das Hostel liegt etwas versteckt in einem Hinterhof. Und die Ortskenntnisse der Taxifahrer lassen seltsamerweise gerade in den kleineren Städten Chinas sehr zu wünschen übrig.
Sehenswürdigkeiten und Aktivitäten (Auswahl):
Sonne- und Mond- Pagoden
Schilfrohrflötenhöhle (Tropfsteinhöhle)
Südtor
Fahrt auf dem Li-Fluss
Reisterrassen
Shopping:
Auf dem Nachtmarkt (Zhongshan Zhanlu) kann man farbenfrohen (manchmal etwas kitschigen) Schmuck und Souvenirs erstehen. Für Menschen mit der entsprechenden Figur haben die kleinen Boutiquen, die man meist in den Durchgängen unter der Straße in der Innenstadt findet, günstige und entzückende Kleidchen im romantischen Stil zu bieten.