Nach knapp vier Tagen im malerischen Guangxi, geht es weiter Richtung Norden, in die Bauernprovinz Henan. Unser Ziel: der Song Shan, der zentrale daoistische Berg Chinas. Trotzdem werden wir zuerst einmal wieder mit dem Buddhismus konfrontiert. Am Fuße des Bergs steht nämlich der Shaolin-Tempel, einer der berühmtesten Zen-Tempel der Welt.
Außerdem ist der Song Shan noch für etwas anderes bekannt. Nämlich die Kampfkunst des Kung-Fu, die tief in der Tradition der Shaolin-Mönche verwurzelt ist. Und tatsächlich erblicken wir schon bei der Ankunft im Dorf am Fuße des Berges die ersten Kampfkunstschüler, die sich, in weite gelbe Gewänder gekleidet und sichtlich erschöpft, spätabends auf den Weg nach Hause machen. Vor unserem Hostel sehen wir, wie die Auszubildenden so ihre Freizeit verbringen. Auf der betonierten Fläche vor dem Haus sitzen ungefähr 100 junge, kahlgeschorene und in Einheitsfarben gekleidete „Mönchlein“, die gebannt einen Film auf einer Riesenleinwand verfolgen. Kung-Fu Panda vielleicht? (Auf jeden Fall wieder ein wunderbares Sinnbild für den chinesischen Kollektivismus.)
Die Geräusche des Films begleiten uns bis in den Schlaf. Um 5:30 Uhr morgens werden wir von lauten Kampfschreien geweckt. Die Kung-Fu-Schüler sind schon wach und machen sich bereit für ihr tägliches Training. Auch wir haben heute ein straffes Programm vor uns. Zuerst Besichtigung des Zen-Tempels, danach rauf auf den Song Shan, zum Abschluss dann zur Höhle des Damo.
Der Shaolin-Tempel ist ein typisch farbenfroher buddhistischer Tempelkomplex mit einem angrenzenden „Pagodenwald“ und einem Friedhof aus 248 Ziegelpagoden, in denen die Asche berühmter Shaolin-Mönche verwahrt ist. Mit der Authentizität ist es hier wieder so eine Sache: Viele der Tempelhallen wurden im Laufe der Jahrhunderte zerstört und erst in jüngeren Jahren wieder aufgebaut (daher auch die strahlenden Primärfarben, vermute ich).
Was jedoch nicht nachgebildet ist, sondern seit eh und je majestätisch in den Himmel ragt, ist der Song Shan mit seinen schroffen, zerklüfteten Felsformationen. Hinauf zum Höhenweg geht’s bequem mit der „Shaolin-Seilbahn“. Man kann jedoch auch den kompletten Weg wandern (Dauer hin und zurück ca. 6 Stunden). Wir sind jedenfalls froh, die Seilbahn genommen zu haben, denn wie bei jedem chinesischen Berg muss man auch hier die ganze Zeit Stufen erklimmen. Die Wanderung zum Sanhuangzhai-Kloster – vorbei an beeindruckenden Schluchten, kleinen quengelnden Kindern und chinesischen Männern, die bei den Temperaturen gerne ihr Shirt hochkrempeln und ihren Bauch „lüften“ – dauert etwa eineinhalb Stunden. Dennoch sind wir nach einer Stunde bereits so erschöpft, dass wir lieber wieder kehrtmachen. Das Sanhuangzhai-Kloster lässt sich von größerer Entfernung aus ohnehin besser fotografieren.
Außerdem liegt ja auch noch die (laut Reiseführer kurze) Wanderung zur Damo-Höhle vor uns. „Damo“ ist der chinesische Name Bodhidharmas, ein indischer Mönch, der im 5. Jahrhundert den Zen- bzw. Chan-Buddhismus nach China brachte. Der Zen-Buddhismus an sich ist ebenfalls sehr interessant: Anders als viele andere Religionen gibt er keine Antworten auf existenzielle Fragen, lehrt keine festen Dogmen. In seinen Schriften sind dementsprechend nur Ratschläge festgehalten – so zum Beispiel, sich von der festen Vorstellung eines „Ichs“ zu lösen, da dies die Ursache aller Leiden sei. Meditation, das Loslassen aller störenden Gedanken, ist dementsprechend ein fester Bestandteil des Zen-Buddhismus.
Vielleicht hätten wir auf dem Weg zur Damo-Höhle auch mal besser unsere Gedanken ausschalten sollen, anstatt nach jeder Wegbiegung zu überlegen, wie weit es noch sein könnte. Mit vier Kilometern hatten wir gerechnet – aber nicht mit vier Kilometern in Form von Stufen! Spätestens jetzt wird uns klar, dass man für eine ausführliche Besichtigung des Song Shan vielleicht besser zwei Tage einplanen sollte. Immerhin spornen uns die vereinzelten fernen Schreie der Kungfu-Schüler an, beim Aufstieg unser Bestes zu geben. Als wir schließlich oben angekommen sind, mit hochroten Köpfen und schmerzenden Beinen, meint meine Freundin: „Jetzt weiß ich, wieso Damo 9 Jahre lang in dieser Höhle gehaust hat. Er wollte einfach nicht wieder den ganzen Weg zurückgehen.
Den Rest unseres Aufenthalts am Song Shan verbringen wir nun zum großen Teil im Liegen und Sitzen: Der letzte wichtige Programmpunkt ist der Besuch einer Shaolin-Show. Die Halle ist brechend voll, und die Veranstalter geben sich alle Mühe, die Aufführung kurzweilig zu gestalten. Junge Männer in kuttenartigen Gewändern legen halsbrecherische Stunts hin, eine Moderatorin gibt dazu Erklärungen übers Mikrophon. Doch Achtung: Was wir hier zu sehen bekommen, ist nicht das spannungsgeladene, auf Angriff fokussierte Kongfu, wie man es aus Martial-Arts-Filmen kennt.
Hierbei handelt es sich um eine Mischung aus mehreren Stilen, darunter auch das sogenannte „Neigong“, das „innere Kongfu“. Beim „Neigong“ geht es darum, die Kraft an einem zentralen Punkt des Körpers zu sammeln, um dann beispielsweise – wie wir mit Staunen mitverfolgen – mit der bloßen Hand einen Nagel durch eine Glasplatte zu treiben. Dieser Aspekt der Kampfkunst spricht mich persönlich am meisten an, ist er doch mit den Entspannungstechniken des Qi Gong verwandt, das ich sehr schätze.
Doch auch der Humor kommt bei der Aufführung nicht zu kurz. Die Shaolin-Krieger holen drei Freiwillige aus dem Publikum auf die Bühne, die unter großem Publikumsgelächter versuchen, die komplizierten Bewegungen der Krieger nachzuahmen. Am Ende kommt noch ein großer Krieger mit einer Peitsche in der Hand auf die Bühne. Als er sie zum Einsatz bringt, muss ich beinahe vor Lachen losprusten. Wie die bayerischen „Goaßlschnalzer“ auf dem Oktoberfest schwingt er sie im Kreis und lässt sie knallen. „Das ist noch gar nichts“, meint meine Freundin. „Manchmal kommen als Requisiten auch Teekannen zum Einsatz...“ Das Kongfu für die Hausfrau wahrscheinlich. In diesem Land gibt es eben nichts, was es nicht gibt.
Unterkunft: Kungfu Hostel, No.20 Wangzhigo. Shaolin Temple, 452470 Dengfeng, China
Das Hostel liegt sehr zentral und das Personal ist zuvorkommend und freundlich. Hier übernachten viele Westler, die sich für Kongfu-Kurse im Ort angemeldet haben.