Als eine der drei Provinzen im nordöstlichen Zipfel Chinas teilt sich Jilin gemeinsam mit Heilongjiang und Liaoning ein ähnliches Schicksal. Vom Rest Chinas als Industriestädte Dongbei (Nordosten) abgestempelt – und auch unter ausländischen Touristen finden sich wenige, die es in diese Region schaffen. Genau deswegen habe ich mich letztes Jahr entschieden, hier mein Auslandsjahr zu verbringen.
Ich wollte einmal in diese Region, da ich es nicht glauben konnte, dass hier nichts außer Industrie ist. Sicher, wer nach den kulturellen Schätzen Chinas sucht, den verschlägt es eher nach Peking, Xi'an und manchmal auch noch nach Suzhou und Hangzhou. Aber ich möchte gerne mit dem Vorurteil brechen, dass der Nordosten Chinas keiner Reise würdig sei. Anfangen möchte ich mit der Provinz Jilin. Der Grund: Hier lebe ich nun für ein Jahr. In Jilin, genauer gesagt in Changchun. In meinen drei Monaten hier habe ich eins gelernt: Für historisch interessierte Chinareisende ist die Region eine Perle. Aber man sollte die Jahreszeit beachten.
Die Provinzhauptstadt Changchun ist das politische Zentrum der Region. Es mag den ein oder anderen Changchuner verletzen, dass ausländische Reiseführer die Stadt oft als eine der letzten nennen, aber das hindert mich nicht daran, dieses Mal mit ihr anzufangen.
Nach der Besetzung weiter Teile des Nordostens durch Japan, war Changchun die Hauptstadt von Mandschuko (1933-45), wie die Japaner die Region nannten. Auch heute erinnert noch vieles in der Stadt an die japanische Kolonialzeit. Changchun kann eine Planstadt genannt werden. Große Straßen, imposante Bauten im japanischen Stil und eine Straßenbahn machten die Stadt zu einem sehr modernen und vorzeigbaren Ort.
Für alle, die den grandiosen Film Der letzte Kaiser gesehen haben, könnte Changchun noch ein weiteres Interesse wecken. Wenn man so will, war hier die letzte Station Puyis, zumindest als Kaiser. Der letzte Kaiser der Qing-Dynastie (1644-1911) wurde hier von den Japanern als Marionetten-Kaiser eingesetzt. Bevor er 1945 von Russen gefangen genommen wurde und dann ab 1950 zehn Jahre in chinesischen Umerziehungslagern verbrachte, war seine Residenz der Kaiserpalast der Mandschurei in Changchun.
Die komplette Anlage mit Arbeits-, Wohn- und Schlafzimmern wurde sehr ordentlich restauriert und ist ein must-see. Auf den ersten Blick erscheinen die Gebäude sehr klein, aber die Zeit im Inneren vergeht wie im Flug. Besonders sehenswert ist eine Fotoausstellung über Puyi. Zwar sind die Bilder nicht mit englischen Texten versehen, aber sie sprechen aus sich heraus und man sieht, wie interessiert und aufgeschlossen Puyi dem Westen gegenüber war.
Auch wenn Changchun übersetzt Die Stadt des langen Frühlings bedeutet, merkt man von diesem Frühling nicht viel. In den Monaten November bis Anfang Mai wirkt die Stadt etwas trostlos in ihrem grau-in-grau. Sobald der Sommer dann aber kommt, werden die unzähligen Parks und Prachtboulevards immer grüner und die Stadt verändert ihr Gesicht vollständig. Das meinte ich mit, man sollte die Jahreszeit beachten.
Für die Freunde der Natur empfiehlt sich der Changbai Shan. Diesen Berg mit dem Himmelssee als Hauptattraktion teilen sich Nordkorea und China. Nach der nordkoreanischen Legende soll Kim Jong-il hier geboren sein. Der tiefblaue See in einem Vulkankrater auf über 2.100 m Höhe beherbergt zudem auch noch ein Ungeheuer. Inmitten der Untiefen des tiefsten Sees Chinas soll, ähnlich wie auch in Schottland, ein Monster leben, welches aber bis heute noch auf keinem Foto festgehalten wurde.
Der Changbai Shan liegt etwa die Hälfte des Jahres unter Schnee begraben. Hier kann man also noch metertief durch den Schnee wandern.
Typisch für eine Vulkanregion befinden sich auch hier Heiße Quellen. Für ausgiebige Wanderungen und Spaziergänge lohnt sich ein Besuch unbedingt. Egal ob Himmelssee, Wasserfall, Heiße Quellen oder ein grüner See – der Changbai Shan zeigt, dass das Kohle- und Industriezentrum Chinas nicht nur grau sein kann, sondern auch grün und farbenfroh.
Jilin ist aber auch der Ort, wo die Koreanische Minderheit einen großen Einfluss hatte und auch immer noch hat. Nicht nur kulinarisch ist dies der Fall, sondern auch gesellschaftlich. Kulinarisch müssen einfach die Kalten Nudeln 冷面 und die Gebratenen Kalten Nudeln 烤冷面 hervorgehoben werden. Einmal die kalte Version, die sich super für die trockenen und warmen Sommertage anbieten und dann das gebratene Gegenstück. Allerdings ist die Zubereitung sehr verschieden. Die kalten Klassiker findet man zudem eher im Restaurant als eine eiskalte Suppe mit viel Gemüse und den Nudeln; während sie gebraten mit Ei, Essig, etwas scharfer Sauce und bei Bedarf auch mit Koriander in den Garküchen auf der Straße serviert werden. Streetfood at it's best.
Ji’an an der Grenze zu Nordkorea beherbergt heute die alten Gräber des Koreanischen Goguryeo Königreichs (37 v.Chr. – 688 n.Chr.). Seit 2004 sind die „Pyramiden“, Grabstätten und Ruinen auch UNESCO Weltkulturerbe. Für alle, die einmal einen Blick über die Grenze nach Nordkorea wagen möchten, bietet sich hier auch eine gute Gelegenheit. Oder man fährt in die Autonome Region der Koreanischen Minderheit Yanbian. Von der Hauptstadt dieser Region, Yanji, fahren täglich Züge in das unweit entfernte Tumen. Ebenfalls eine Grenzstadt zu Nordkorea. Momentan sind die Grenzen allerdings etwas besser bewacht und das knipsen von Fotos ist nur sehr eingeschränkt bzw. heimlich möglich.
Egal ob Koreanische Königsgeschichte, reizende Natur und die Chance auf mal wieder richtig viel Schnee sowie die späte Kaisergeschichte Chinas: Jilin ist auch fernab der Chinesischen Mauer, der Terrakottaarmee oder der Verbotene Stadt eine interessante Region. Ich sage eindeutig nicht die idyllischste, aber mit Sicherheit eine der interessantesten Flecken in China. Genau so, wie der gesamte Nordosten Chinas. Dazu aber an anderer Stelle mehr. Und für alle, die ihr Chinesisch unter Beweis stellen wollen noch ein kleines Schmankerl: Im Gegensatz zu anderen Regionen wird hier wirklich einigermaßen Hochchinesisch gesprochen.