Wenn in Europa ‚der gute Name’ eine Währung ist, dann zahlt man in China mit dem Gesicht. Allerdings hat jeder nur eins, deshalb muss man aufpassen, dass sein Kurs nicht sinkt oder es gar von einer Gesichts-Rating-Agentur herabgestuft wird.
Dem Gesichtseigentümer sitzen diese Agenturen ständig im Nacken – es sind Freunde, Freunde von Freunden, Bekannte, Bekannte von Bekannten und vor allem Geschäftspartner.
Zunächst einmal ist da nur ein Gesicht. Es hat keinen Wert. Das ist weder gut noch schlecht. Beginnt der Gesichtsinhaber allerdings sich in sozialen Gefügen und Netzwerken zu bewegen, steigt oder sinkt der Wert seines Gesichts mit seinem Handeln. Dabei wird er von den Rating-Agenturen beobachtet. Sind seine Handlungen in ihren Augen gut und respektabel erhöht sich der Wert des Gesichts. Durch diese Gesichtsmehrung schafft sich der Inhaber gute Vorraussetzungen, seinen Status weiter zu verbessern. Er wird in die Lage versetzt weitere ‚Guanxi’ zu knüpfen. Dabei sind ‚Guanxi’ noch etwas mehr als gewöhnliche Beziehungen. Es ist Ausdruck der Mitgliedschaft in einem inneren Kreis, bestehend aus Menschen mit exzellenten Gesichtern.
Der innere Kreis ist allerdings relativ durchlässig. Als Gesichtsinhaber kann ich mit meinem Gesicht bürgen für jemanden, dessen Gesicht noch unbeschrieben ist. Dadurch wird der Gesichtlose aufgewertet und kann nun eigene ‚Guanxi’ ausbilden. Fällt er aber in Misskredit durch unwürdiges Handeln, wird dadurch auch mein Gesicht empfindlich beschädigt. Wenn ich Glück habe, stufen mich die Rating-Agenturen nur herab und erklären mich nicht umgehend für bankrott. An der Stelle wird es dann kompliziert und ich mir muss mir genau überlegen, wem ich mein Gesicht anvertraue.
Für Besucher im Reich der Mitte gelten wohl eher Light-Versionen dieser Gesichtsregeln. Aber dennoch – stellt man sich ungeschickt an, ist man die längste Zeit Gesichtsinhaber gewesen. Oder schlimmer noch, man raubt einem stolzen Gesichtsbesitzer sein Allerheiligstes und stellt ihn bloß vor seiner Rating-Agentur.
Dies kann schon der Fall sein, wenn man etwas ablehnt. Auf den ersten Blick eine Nichtigkeit, aber es gehört sich einfach nicht in einem Restaurant oder einer Bar, eine Einladung auszuschlagen. Der Spender will damit seine Gastfreundschaft zum Ausdruck bringen. Lehnt man ab, kann es so wirken, als fühle man sich unwohl in der Rolle des Gastes. Das wirft ein schlechtes Licht auf den Gastgeber und Gesichtsinhaber.
Das Gesicht des Einladenden ist ebenfalls in Gefahr, wenn der Eingeladene zum Gegenschlag ausholt und meint, seinerseits die Spendierhosen anziehen zu müssen. Dabei gilt: Gastgeschenke sind völlig in Ordnung, sogar gern gesehen. Man düpiert den Gastgeber allerdings dann, wenn man in einem Restaurant plötzlich lauthals die Rechnung fordert und übersieht, dass gerade der Akt des Bezahlens für den Einladenden eine gesichtswahrende Funktion besitzt. Dabei ist es immer sehr anstrengend, so ging es mir jedenfalls, den Revanchier-Reflex zu unterdrücken – damit muss man dann warten und bei Gelegenheit selbst eine Einladung aussprechen.
Auch wenn man nicht gerade eingeladen ist und die Rechnung aus eigener Tasche bezahlen muss, kann es passieren, dass man unnötigerweise sein Gesicht aufs Spiel setzt: Trinkgelder sind dabei eine fiese Falle. Großzügig und spendabel möchte der Reisende gerne erscheinen, wenn er beispielsweise einem Taxifahrer das Wechselgeld lassen möchte. Auch wenn es sich nur um ein paar Cent handelt, gebietet der Gesichtskodex: auf Trinkgeld zu verzichten. Der Fahrer braucht keine Almosen, er braucht sein Gesicht – und dem droht eine Herabstufung der Agenturen, sollte er die Aufmerksamkeit annehmen.
Das alles klingt kompliziert – aber keine Sorge, Besucher verfügen über einen großen Gesichtskredit. Verstanden hat man das Wesentliche, wenn man Einladungen über sich ergehen lassen kann, ohne sofort nach seinem Portemonnaie zu greifen und sich einfach erfreut an der gratis Zufuhr an Essen und Getränken. In diesem Sinne: ‚Ganbei!’ (Prost).
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