Auf den ersten Blick verstellen Wolkenkratzer den Blick auf das kulturelle Erbe. Doch hinter den Kulissen lebt das alte China. / Von Bernd Schiller
Neonblumen blühen grell auf, Lichtkaskaden stürzen von den Hochhäusern. Es ist früher Abend, und die Luft über dem Huangpu-Fluss ist auf einmal ganz klar geworden. Stundenlang hatten tagsüber Smog und Nebel die City von Schanghai verhüllt, die wie keine andere für den Aufbruch und den Wandel Chinas steht. Eine Übermorgen-Stadt wird sie genannt, eine Metropole wie aus einem Science-Fiction-Film, gigantisch und unbarmherzig, ein Moloch mit offiziell 18, wahrscheinlich aber längst mehr als 20 Millionen Einwohnern.
Es war ein Himmelfahrtskommando der sanften und ungefährlichen Art: Drei schnelle Fahrstühle haben uns gerade auf die „Wolke 9“, die höchstgelegene Bar der Welt, schweben lassen. Sie krönt das Jin-Mao-Gebäude, eine Glas- und Stahl-Pagode von 88 Stockwerken, das schönste Hochhaus Asiens, das ebenso auffällig aus dem steinernen Meer des Pudong-Bezirks ragt wie nebenan der Oriental Pearl Tower, der Fernsehturm. Wie von allen Gipfeln in Pudong – die Szenerie raubt einem den Atem: Rechts und links eine Skyline, die sich die besten Architekten aus aller Herren Länder in den letzten 20 Jahren erträumt und erbaut haben. Und drüben auf der anderen Seite des Huangpu prunken die Kolonialbauten am Bund, der alten und neuen Prachtpromenade am Fluss.
Zwischen diesen Welten gleiten kleine, schlanke Boote und ausladende Schleppkähne durch das dunkle Wasser. Grelle Konsumbotschaften flackern in die Nacht, ausgestrahlt von einer Armada von Werbeschiffen. Illuminierte Ausflugs- und Dinnerdampfer kreuzen von Pudong zur weltberühmten Uferstraße, von der vor etwa 90 Jahren der legendäre Ruf dieser Stadt ausging; verrucht und lasterhaft, „mit Opium und Schmuggel verdient“, wie Vicki Baum in ihrem Buch „Hotel Shanghai“ die Ursprünge des ersten Aufschwungs auf einen Nenner gebracht hat.
Der Mythos von Gier und Glamour stammt vor allem aus den 30er-Jahren. Große und dunkle Geschäfte, korrupt, mondän, spielten sich in der internationalen Zone ab, in den Vierteln, die Amerikaner und Engländer den Chinesen in den Opiumkriegen des 19. Jahrhunderts abgepresst hatten. Kaum weniger tabulos ging es in der Französischen Konzession zu. Noch immer säumen dort Platanen die Boulevards, die an die südfranzösische Heimat erinnern sollten.
Der Bund, heute wie einst von den kolonialbritisch geprägten Palästen der Banken und Versicherungen dominiert, spiegelt Geschichte und Gegenwart, Hoffnungen und Probleme Schanghais wider. Bettler schlafen zwischen den Säulen des Kapitals, die jungen Schönen schlendern unter roten Murano-Kronleuchtern durch die Schickimicki-Mall „Bund 18“, vorbei an Cartier und Patek Philippe.
Macht also nur der ständige Wandel die Atmosphäre dieser Stadt aus, die sich im wahnwitzigen Tempo auf die Weltausstellung im nächsten Jahr hin jeden Tag neu erfindet? Immer mehr Hochhauswälder wuchern in die Ränder der Innenstadt und fressen gewachsene Viertel. Baukräne werden hochgezogen, noch ehe die Trümmer der alten Häuser abgeräumt sind. Mindestens 30 000 Tonnen Bauschutt sollen täglich auf Lastwagen gekippt und ins Niemandsland nach außerhalb gefahren werden. Herr Hu, 25 Jahre alt und Informatikstudent, findet daran nichts Schlimmes. Er kann nicht verstehen, warum Ausländer immer das Alte suchen und bewahren wollen. Wir haben ihn ausgerechnet im Herzen der Altstadt getroffen, im „Garten der Zufriedenheit“. Einerseits ist für Herrn Hu die Abrissbirne „ein Symbol des Fortschritts“. Andererseits aber sind ihm auch die Traditionen wichtig. Zum Beispiel übt er jeden Morgen am Bund eine Stunde lang Tai-Chi, jene fließenden Bewegungen, die im Westen gern Schattenboxen genannt werden. Von dort, sagt er lächelnd, hat er nämlich den besten Blick auf die Hochhäuser von Pudong, eine Kulisse, die ihn stolz macht.
Peter Hibbard lächelt etwas wehmütig, als wir ihm von der Begegnung mit Herrn Hu erzählen. Peter, Hobbyhistoriker und Schriftsteller, ist Engländer. Er lebt seit 25 Jahren in Schanghai, und er liebt es, das Klischee von der seelenlosen Wolkenkratzer-Metropole aufzubrechen. Das Hotel Shangri-La vermittelt ihn regelmäßig an Gäste, die auf der Suche nach dem alten Schanghai sind. Im Hotel Astor, 1905 erbaut und über Jahrzehnte das feinste Haus am Platz, glänzt inzwischen wieder die Patina. Backpacker mit dem Hang zum Ursprünglichen steigen dort ab, ebenso betagte Nostalgiereisende, die viel über die bewegten Zeiten gelesen haben. Peter Hibbard frühstückt dort gern auf seinen Rundgängen und erzählt Anekdoten über die Epoche, in der Charly Chaplin, Albert Einstein und der junge Tschu-En-lai im Astor logierten und die Passagiere der Ersten Klasse, die mit dem Schiff in den Fernen Osten gereist waren, zur Teatime einkehrten. Peter kennt auch die Hinterhöfe, in denen Jauchewagen noch immer die Inhalte der Eimer und Nachttöpfe abholen; solche Viertel haben keine Überlebenschance. Immerhin aber gelten schon mehr als 2 000 Gebäude aus den Glanzzeiten der Stadt als geschützt. In die liebevoll renovierten Reihenhäuser, die Li Long, wie sie typisch waren für das alte Schanghai, ziehen neuerdings immer mehr Künstler, Designer, Architekten ein, die neue kreative Elite der Stadt.
Im Fuxing-Park, in der noch immer sogenannten Französischen Konzession, tanzt das Schanghai der kleinen Leute: Rentner, Beamte, Arbeiter schwofen über die Spazierwege. Sie zahlen der Stadt einen Obolus dafür, dass sie mit ihren Rekordern Strom aus den Verteilerkästen zapfen. Walzer, Polka, Tango, aber auch Tschingderassabum-Musik schallen aus den Lautsprechern. Vor einem verdreckten Marx-Engels-Monument tragen junge Leute ein improvisiertes Federballturnier aus. Peter Hibbard liebt diese Atmosphäre, die so gar nichts zu tun hat mit der glitzernden Welt von Pudong. Hier, so meint er, schlage das wahre Herz der Stadt, hier und in den traditionellen Teehäusern, von denen es immer noch ein paar Hundert gibt.
Von Bernd Schiller (Deutsches Ärzteblatt,03.04.2009, S. 26-27)