Sie laufen geschäftig wie die Ameisen. Durcheinander, zielstrebig, ohne zusammenzustoßen. Sie drängeln sich durch die Sicherheitskontrolle, schmeißen ihre Taschen auf die Sitzbänke und kauen voller Zufriedenheit getrockneten Fisch und in Plastik eingeschweißtes Entenfleisch. China begeht den Tag der Arbeit mit einem verlängerten Wochenende. Wer in Shanghai wohnt, fährt aufs Land; wer auf dem Land wohnt, fährt nach Shanghai. Stoßbetrieb am brandneuen Hongqiao Bahnhof von Shanghai.
Die großzügige Wartehalle glänzt. Seit der Expo legt Shanghai noch mehr Wert auf sein Erscheinungsbild. Die Zeiten, in denen am Bahnhof nach Herzenslust Melonenschalen und Sonnenblumenkerne auf den Boden gespuckt wurden, sind vorbei. „Shanghai – wonderful World Metropolis“ verkündet ein Schild. Bescheidenheit ist eben keine Shanghaier Tugend. Aber warum auch? Selbst die Toiletten sind sauber. Dreimal die Stunde rast der Schnellzug nach Hangzhou. Die Strecke, die bisher in knapp zwei Stunden zurückgelegt wurde, dauert nur noch 45 Minuten.
Hangzhou ist mit seinen grünen Teeplantagen und dem romantischen Westsee eines der liebsten Urlaubsziele der Shanghaier. In China sind die Ferien staatlich verordnet. Alle Chinesen fahren also zur gleichen Zeit in Urlaub. Egal wo man dann hinfährt, überall ist die Hölle los. Den Begriff „Nebensaison“ gibt es nicht. Das richtige Urlaubsgefühl stellt sich bei einem Chinesen ein, wenn er gemeinsam in einer großen Gruppe, getrieben von einem Reiseleiter mit Megaphon und rotem Fähnchen, durch eine noch größere Menschenmasse drängelt. Also in dem Moment, in dem der Blutdruck des Durchschnittsdeutschen einen beängstigend hohen Wert erreichen oder Schweißausbrüche einen klaustrophobischen Anfall ankündigen würden.
Shanghai hat sich in den letzten Jahren entwickelt wie kaum eine andere Stadt. Die Shanghaier haben sich an die rasanten Veränderungen gewöhnt. Keiner wundert sich, dass die Zugbegleiterinnen auf dem Weg nach Hangzhou wie Flugbegleiterinnen aussehen. Sie tragen eine Uniform und begrüßen die Gäste auf Chinesisch und Englisch. Die Sitze sind plüschig. Entspannungsmusik klimpert im Hintergrund. Lautlos rast der Zug aus Shanghai hinaus. Die Häuser der Provinz Zhejiang mit ihren charakteristischen silbernen Blitzableitern auf den Dächern fliegen vorbei. Bauern bestellen ihre kleinen Äcker und fischen in Tümpeln nach etwas Abwechslung im Speiseplan. Die Welt da draußen nimmt keine Notiz von dem Highspeed-Zug, der seit einigen Monaten fast minütlich vorbeibraust.
Großprojekte durchzusetzen, das ist in China kein Problem. Stuttgart 21 in China? Unvorstellbar! Noch diesen Sommer soll am Hongqiao Bahnhof der Schnellzug nach Peking in Betrieb genommen werden. In gerademal fünf Stunden wird der Zug in die Hauptstadt rasen. Berücksichtigt man die Wartezeiten und Verspätungen beim Fliegen, wird er das Flugzeug fast einholen.
Ein lautes Piepsen verkündet, dass der Zug nach Hangzhou seine Höchstgeschwindigkeit von 350 km/h erreicht hat. Kurz darauf wird das Tempo wieder verlangsamt. Am Ziel angekommen ergießt sich ein Strom vergnügungswilliger Shanghaier. Sie drängeln sich in die Ausflugsbusse. Die nächsten zwei Stunden werden sie auf Hangzhous verstopften Straßen auf dem Weg zum berühmten Westsee zubringen. Alles hat sich in China eben doch noch nicht geändert.