Ich stehe am Sushi Take-Away und warte auf die Bedienung. Die letzte Packung gemischte Maki-Röllchen, das wird mein Abendessen. Während mir schon das Wasser im Munde zusammenläuft, drängt sich von links eine Chinesin heran. Mit sanftem Druck will sie mich zur Seite schieben. Ich halte dagegen. Zumindest was die Körpermasse betrifft, bin ich ihr weit überlegen. Und dann passiert es doch.
Blitzschnell ordert sie meine Maki-Röllchen und ehe ich mich versehe rutscht mir folgendes heraus: „Hast du keine Augen im Kopf? Ich stehe hier!“. Entsetzt starren mich die Chinesin und die Bedienung an. Natürlich weiß ich nicht, ob sie mich entsetzt anschauten, weil ich so unfreundlich war oder weil die Ausländerin Chinesisch sprechen kann oder weil ihnen klar wurde, dass diese Maki-Röllchen meine sein würden. Fest steht aber auch, dass ich meinen kleinen Ausbruch sofort wieder bereute. Als Gast in China ist es schließlich nicht meine Aufgabe die Chinesen zu erziehen. Dafür gibt es ja die Regierung.
Zuerst wurde das Spucken in Shanghai offiziell verboten und die kultivierten Shanghainesen sahen schnell ein, dass es sich hierbei um eine äußerst unhygienische Angewohnheit handelt, eher typisch für hinterwäldlerische Provinzchinesen. Anlässlich der Olympiade wurden dann in allen Parks knallbunte Fitnessgeräte aufgestellt. Das ganze Volk sollte schon mal für das Großereignis trainieren. Und dann das Highlight 2010: die Expo in Shanghai. Die Chinesen waren zwar inzwischen einigermaßen fit und spuckten auch nicht mehr wild durch die Gegend, allerdings war ihr Kleidungsstil nicht repräsentativ. Besonders im Sommer gehen die Shanghainesen gerne in ihren Pyjamas am Bund spazieren oder tragen ihre Singvögel in die Parks. Also wurde eine Anti-Pyjama Kampagne gestartet und tatsächlich, heute ziehen sich fast alle Chinesen anständig an, wenn sie das Haus verlassen.
Die Regierung gibt sich alle Mühe, ihre 1,3 Mrd. Schützlinge den internationalen Benimmregeln entsprechend zu erziehen. Nur mit dem Schlange stehen, da gibt es immer noch Probleme. Zwar wurde auch schon ein monatlicher „Tag des Schlange stehens“ eingeführt. Doch wurde an den restlichen 30 Tagen des Monats eben weiter munter gedrängelt. Damit es nicht so kompliziert ist, hat man in der U-Bahn Pfeile auf den Boden gepinselt. Rechts und links anstehen, in der Mitte aussteigen lassen. Das funktioniert insbesondere nach 23 Uhr und vor 7 Uhr wunderbar. Aber zur Rushhour gelten eben die Gesetze des Stärkeren und nicht die Pfeile. Dann wird gedrängelt und geschubst und der Sieger wird mit einem Sitzplatz in der Bahn belohnt.
Absolut unüblich ist das Anstehen auf der Damentoilette. Das schöne Geschlecht stürmt bei Harndrang einfach auf die sich öffnende Toilettentür zu. Da kann es natürlich schon mal vorkommen, dass zwei Frauen gleichzeitig in ein Klo drängeln. Vermutlich wird die mit weniger Druck auf der Blase in so einem Moment einen freiwilligen Rückzug antreten.
Doch während ich abends meine hart erkämpften Maki-Röllchen verspeise und über die Anarchie auf Shanghais Strassen nachdenke, fange ich an, meine Meinung ein bisschen zu ändern. Vielleicht sollte ich mich besser anpassen und am kommenden Wochenende auch einmal im Schlafanzug mit einem Singvogel unterm Arm in der U-Bahn gegen den Strom schwimmen… und da behaupte noch einer die Chinesen wären keine Individualisten!