Als wir uns auf den Weg zur Großen Mauer machen, überlegten wir, was wir schon alles über dieses Bauwerk wussten. Sie ist angeblich mit bloßem Auge aus dem Weltall zu sehen, gehört zum UNESCO Weltkulturerbe und täglich besuchen sie knapp eine halbe Million Menschen. / Ein Erlebnisbericht von Tatjana Stauder-Jung.
Mit all diesen Informationen, festen Schuhen und einem Lunchpaket ausgestattet, begaben wir uns am zweiten Reisetag der „China mit Yangtze“ mit unserem Reiseleiter Tong Sisi gegen Spätnachmittag auf die etwa 70km lange Fahrt mit dem Kleinbus von Peking nach Badaling. Am Vortag, dem Ankunftstag, hatten wir bereits den Sommerpalast und den Kaiserpalast besichtigt: beides sehenswert und durchaus beeindruckend. Auf die Mauer waren wir alle gespannt – soll es doch Chinareisende geben, die ausschließlich wegen der Großen Mauer kommen.
Tatsächlich wunderten wir uns schon ein wenig über die doch recht späte Abfahrtszeit. Aber Tong Sisi versicherte uns, dass wir absichtlich erst um diese Uhrzeit dorthin aufbrechen würden, damit der „große Besucheransturm“ schon vorüber sei. Wir waren also gespannt und genossen den Blick auf die hügelige Landschaft außerhalb der Busfenster und waren nur ein wenig erstaunt über den vielen Verkehr und die Geschwindigkeit der vorbeirauschenden Lkws.
Bald erhaschten wir zwischen den Hügeln schon erste Blicke auf das gigantische Bauwerk. Als wir gegen 17Uhr ankamen, wurde schnell klar, dass unser Reiseprogramm und die übereinstimmende Aussage des Reiseleiters nicht falsch waren: keine Reisegruppen weit und breit. Wo waren nur die knapp 500.000 Besucher? Stattdessen lag sie vor uns: groß, breit, unendlich lang und verlassen. Wir starteten unseren Aufstieg direkt: Treppe hoch und dann links halten. Von dort habe man den besseren Blick auf die von der untergehenden Sonne beleuchtete Mauer.
Nun standen wir also auf ihr und konnten unsere Blicke nicht mehr abwenden, denn wohin man auch schaute, sah man tatsächlich nur noch Mauer. Stein auf Stein, Treppenstufe an Treppenstufe. In der Ferne war nur noch der Straßenlärm zu hören und wir ahnten, dass wir hier oben ein sehr außergewöhnliches touristisches Erlebnis haben würden: alleine auf der Großen Mauer.
Was wir nicht wissen konnten, war eine weitere Überraschung in Tong Sisi‘s Gepäck. Wären wir nicht so beschäftigt gewesen mit unseren Kameras und den vorsichtigen Schritten auf den unregelmäßigen Stufen, hätten wir vielleicht das Klappern der Flaschen hören können. Denn just in dem Moment, wo der Sonnenuntergang einsetzte und unser Reiseleiter an vorgesehener Plattform zur Rast aufrief, packte er den Rotwein aus: Great Wall. Genau das Richtige in diesem Moment mit herrlicher Atmosphäre. Alle waren begeistert und staunten über die Mauer, die bewaldeten Hügel und die Mauersteine, die sich in der Abendsonne zu verfärben begannen und die Ruhe, die handvoll Besucher und den köstlichen Wein. Perfekt. Prost!
Wir verharrten eine Weile, fotografierten, genossen, stiegen noch weiter hoch, fotografierten in die andere Richtung, stiegen höher, genossen weiter…
Irgendwann wurden wir zum Abstieg gemahnt. Und setzen dann wieder ganz vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Treppab ist nicht weniger anstrengend als treppauf. Unten angekommen empfingen uns im Cafe´ und Souvenirladen zwei chinesische Mädchen. Eine Tasse Tee war jetzt gerade richtig. Wir erfuhren, dass der Shop eigentlich längst geschlossen hatte und der letzte Bus in die Stadt schon weg sei. Aber man hatte arrangiert, dass die paar Reisenden aus Deutschland noch bewirtet wurden und hatte den Mädchen ein Taxi nach Hause bestellt. Am Fuß der Mauer genossen wir also weiter und staunten nicht schlecht, als sich diese diesmal nicht durch die untergehende Sonne, sondern durch elektrische Beleuchtung in ein mystisch- verträumtes Bauwerk verwandelte.
Im Rückspiegel unseres Kleinbusses konnten wir das spektakuläre Farbenspiel noch lange erahnen.