Ich drehe mich vor dem Spiegel. „Sehr schick“, sagt die Verkäuferin und grinst. Und doch, die Hose ist unten zu lang, oben zu eng. Der Ausschnitt der Bluse endet kurz überm Bauchnabel und irgendwie macht auch alles dick. Wiedermal endet das geplante Powershopping mit Frustration und Eiscreme. Doch in Shanghai gibt es eine Lösung: die zahlreichen Stoffmärkte, auf denen sich auf mehreren Etagen unzählige Schneider tummeln.
Genüsslich blättere ich durch eine Ausgabe der Vogue und entscheide mich für das Outfit von Seite 66. Mit der Zeitschrift und etwas Bargeld begebe ich mich zum Kleidermarkt. Seide, Kashmir, Baumwolle, Pashmina und alle eben genannten Stoffe mit einem variablen Synthetikanteil. Dazu Filz, Nicky und Leder. Dicke Rollen in allen Farben, die Auswahl ist unendlich. Hosenanzüge, Qipaos, Ledermäntel, Stoffschuhe, Cocktailkleider. Hier ist alles machbar, in jeder Größe, Farbe und Form. Diverse Ausländer blättern in Designerkatalogen und reiben die verschiedenen Stoffe zwischen den Fingern. Ist die Frage des „Was“ beantwortet, muss noch das „Wieviel“ geklärt werden. Es werden hitzige Debatten zwischen Expats und Schneidern ausgefochten, denn Handeln ist hier Gesetz. Aber die gewieften Chinesen sind ihren ausländischen Kunden beim Feilschen weit überlegen.
Bei einem chinesischen Schneider
Ich wähle folglich ein schwarzes Stöffchen für meine stylische Vogue-Sommerhose. Der Preis erscheint mir teuer. Ich frage nach einem Discount. Der Schneider meiner Wahl zieht daraufhin einen zweiten Stoff unter einem Kleiderhaufen hervor. Ich fühle einen gewissen Unterschied. Stoff Nummer zwei, verrät er, ist für den halben Preis zu haben und im übrigen von ganz minderwertiger Qualität. Ich bleibe bei Stoff Nummer eins und wende meine Handelstaktik A an. Mit großer Dramatik berichte ich meinem Schneider vom Studentenleben und finanziellen Schwierigkeiten. Er zieht abermals Stoff Nummer zwei aus dem Kleiderstapel hervor. Daraufhin setze ich Handelstaktik B ein und entferne mich langsam in Richtung Ausgang. Nichts passiert. Resigniert laufe ich einmal über die Etage. Als ich wieder auf seinen Stand zusteuere, wedelt mein Schneider schon mit einem Maßband. Sein Grinsen reicht bis zu den Ohren und formt seine Augen zu kleinen Schlitzen. Er bescheinigt mir ein ausgezeichnetes Qualitätsbewusstsein und versichert eifrig, dass ich meine Entscheidung nicht bereuen werden.
Ich werde vermessen. Brust, Bauch, Hüfte, Po, Beinlänge, Unterschenkellänge, Oberschenkelumpfang und ebenfalls Kragenweite... jedes Glied wird mit genauen Milimeterangaben in eine Tabelle eingetragen. Der Schneider behält meine Vogue und genau eine Woche später um 8 Uhr morgens klingelt es an meiner Tür. Ein Lieferant hält mir ein kleines Päckchen unter die Nase. Ich reiße es auf und probiere voller Spannung meine maßgeschneiderten Klamotten an. Sie sitzen wie eine zweite Haut. Jedes Detail entspricht dem Bild aus der Zeitschrift. Kein Wunder, sind Chinesen doch Meister im Kopieren.
H&M hat einen Kunden verloren und keine zwei Wochen später stehe ich wieder zwischen den Stoffrollen. Die neue Vogue unterm Arm und in der Tasche 20 Euro für die Bluse von Seite 43.