Im Dezember 2008 war die Welt noch in Ordnung. Das Taipei 101 war noch das höchste Gebäude der Welt und ich glücklich und zufrieden, da mein langjähriges Vorhaben, Silvester am Fuße des selbigen zu verbringen, kurz davor stand, in die Tat umgesetzt zu werden. Kleinere Einwände meiner Taiwanesischen Freunde („Bist du irre?“) konnten mich nicht beirren und die Aussicht, dass „ganz Taipeh“ dort sein würde, machte es für mich gerade spannend. Alles war perfekt. Und dann kam die Kälte.
Das Taipei 101 (chin. 台北101), das eigentlich Taipei World Financial Center heißt, eine Bezeichnung, die den Einheimischen allerdings höchst selten über die Lippen kommt, durfte sich von 2004 bis 2010 mit dem Titel „höchstes Gebäude der Welt“ schmücken. Mit 508 Metern verteilt auf 101 „sichtbare“ Stockwerke (die unterirdisch gelegenen Stockwerke werden nicht mitgezählt) ist es das Wahrzeichen der Hauptstadt Taipeh - und der Ort, an dem jeder Taiwan-Reisende die Zeit zwischen den Jahren verbringen sollte. Während sich auf der Bühne die ganz großen der chinesischen Musikszene die Klinke in die Hand geben, fiebert die Menge am Fuße des Wolkenkratzers, der zur Feier des Tages besonders hell glitzert, dem großen Countdown entgegen. Alle warten auf den Moment, wenn die Lichter am Taipeh 101 erlöschen, bevor die Ilha Formosa im gleißenden Licht des gewaltigen Neujahrsfeuerwerks ins neue Jahr startet. So ungefähr hatte ich mir das vorgestellt.
Dann fiel das Quecksilber ins Bodenlose und die Warnungen meiner Freunde, dass man vor lauter Menschen kein Bein an die Erde kriegen werde, die Verkehrssituation katastrophal sein werde und es verrückt sei, sich bei der Kälte den Countdown anzutun, nahmen zu. Und so landeten wir zunächst gemütlich auf dem heimischen Sofa und verfolgten das Geschehen vom Fernseher aus. Wie gut, dass wir sicher und mit viel Platz in der warmen Stube saßen. "Es ist das letzte Neujahrsfest, dass wir mit dem Taipei 101 als höchstes Gebäude der Welt feiern - trotz der Finanzkrise wurde daher ein besonders ausgefallenes Feuerwerk organisiert." Die Stimme der Ansagerin ist noch nicht ganz verklungen, als wir aufspringen und nach den Mänteln greifen. Nachdem wir alle Kleidungsstücke, derer wir habhaft werden konnten, angezogen haben, stürzen wir uns ins Getümmel.
Um die U-Bahn zu meiden, schlagen wir uns querfeldein durch die Straßen, bis wir am Eingang des 101 landen. Es ist 20 Uhr. Genug Zeit für einen Rundgang. Es lohnt sich: Bei der chinesisch-deutschen Co-Produktion unter der Leitung von Architekt Chong Yang Lee ist das Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne nicht zu übersehen. Die Hauptmaterialien der Moderne – Stahl und Glas – treffen auf chinesische Glückssymbole und strenge Feng-Shui Lehre. So taucht zum Beispiel die Glück- und Reichtum verheißende Zahl 8 in Form von Münzen immer wieder auf. Sie ist aber nicht nur Deko-Element, sondern soll auch die im Financial Center ansässigen Firmen vor roten Zahlen bewahren. Die schlanke Glas-Silhouette des Gebäudes erinnert an den wohl berühmtesten Vertreter aus der chinesischen Flora: Bambus.
Auch das Innere des 101 ist sehr eindrucksvoll. Auf den unteren Stockwerken tummeln sich internationale Marken, dazu hier und da eine künstliche „Gartenanlage“ zum Ausruhen. Hier können Sie auch schon mal ablesen, wie weit Sie von anderen internationalen Metropolen entfernt sind. Interessant wird es ab Ebene fünf, denn ab hier befördern die Fahrstühle Besucher in nur 38 Sekunden hinauf zur Aussichtsplattform im 89.Stock. Aber auch 38 Sekunden sind zu wertvoll, als dass man sie verschwenden könnte. Und so rattert das Service-Fräulein in Blau ihren auswendig gelernten Infotext zu Gebäude und Fahrstuhl auf Chinesisch und Englisch in einer Geschwindigkeit herunter, die keine Zeit für eine Atempause lässt. Am Ende ihrer Rap-Einlage wünscht sie uns einen angenehmen Aufenthalt, bevor sie mit einer kleinen Verbeugung wieder im Fahrstuhl verschwindet.
Wir bewundern indessen die Skyline Taipehs vor dem Nachthimmel und blicken hinab auf die schimmernden Lichter des Geschäftsviertels Xinyi. Mit der Audioführung im Ohr wandern wir entlang der Fenster und genießen die Aussicht. Wenn Sie möchten, können Sie von hier oben aus auch einen Anruf bei den Lieben zu Hause tätigen oder eine Postkarte versenden. Wer sich für die beeindruckenden Zahlen rund um die Konstruktion und den Ablauf des Bauprojektes des 101 interessiert, der sollte sich zum Mittelpunkt des Gebäudes vorarbeiten.
Hier können Sie auch die 660 Tonnen schwere, vergoldete, aus einzelnen Scheiben gefertigte Stahlkugel bewundern, die das 101 im Gleichgewicht halten soll. Der überdimensionale „Dämpfer“ mit einem Durchmesser von 5,5 m baumelt sie vom 92. hinab in den 88. Stock. Obwohl die Dicke der Stahlseile beachtlich ist, wenn man sie einzeln in Augenschein nimmt, wirken sie nach einem Blick auf die enorme Kugel geradezu mickerig. Für ganz Mutige empfiehlt sich dazu – gutes Wetter vorausgesetzt – der 91. Stock für einen Freiluftspaziergang in schwindelerregender Höhe.
Als wir unsere Besichtigungstour beenden, wird schnell klar, dass das mit dem Feiern direkt am 101 vielleicht doch keine so gute Idee war. Der Platz am Fuße des Mega-Bambus ist hoffnungslos überfüllt und wir beschließen uns in Richtung Pacific Center, einem großen Einkaufszentrum direkt gegenüber des 101 gelegen, zurückzuziehen. Wir haben Glück. Auf der Anhöhe hinter dem Gebäude hat man einen erstklassigen Blick auf den Wolkenkratzer. Die Lautsprecher übertragen das Geschehen. In der Zwischenzeit kommen wir mit anderen Wartenden ins Gespräch. Jeder hat seine Geschichte zum noch höchsten Bambus der Welt beizusteuern. So erfahre ich beispielsweise einiges über die Ausrichter des jährlichen Feuerwerks: Die Firma, deren Name auf der Spitze des Gebäude erscheint, bezahlt den Löwenanteil der Pyro-Show. Und obwohl man gerne einen nationalen Vertreter dort stehen gehabt hätte, funkelt uns in blauen Lettern die koreanische Konkurrenz entgegen. Der Stimmung tut dies keinen Abbruch. Die Besucher erinnern sich an allerlei Anekdoten rund um ihren Super-Bambus. Beispielsweise der kostspielige Heiratsantrag, den ein Geschäftsmann für seine Angebetete am 101 erstrahlen ließ. Viel genützt hat das überdimensionale „Marry Me!“ leider nicht. Das Paar ist heute geschieden.
23:58. Es wird dunkel. Die Beleuchtung am 101 wird abgeschaltet und die Spannung steigt. „Hoffentlich haben sie das mit dem Countdown nochmal geübt“, flüstert meine Freundin mir ins Ohr. Beim letzten Jahreswechsel ging das nämlich schief. Die Übertragung per Lautsprecher zu den umliegenden Ausblickspunkten kam nur versetzt an. Während man am Fuße des 101 schon fleißig feierte, wurde am Pacific Center noch fleißig gezählt. Aber wir haben Glück. Heute geht alles glatt. Taipeh startet einheitlich ins neue Jahr:
3,2,1…Pyromania! Die Taiwanesen haben sich sichtlich in Unkosten gestürzt, um "ihrem" 101 einen gebührenden Abschied vom Weltrekord zu bescheren. Das Thema in diesem Jahr ist unschwer zu erkennen: Wir lieben Taiwan. Zwischen bunten Funken und Spiralen, die sich in allen Farben ins Tiefschwarz des Nachthimmels schrauben, fliegen und flirren Herzen in allen Nuancen.
Nach der aufwendigen Pyro-Show, die keine Wünsche offen gelassen hat, sind wir bester Stimmung aber ein wenig unterkühlt. Wir flüchten auf die nächste Tanzfläche. Gegen 5 Uhr gehen wir dann zum offiziellen Programm über: Das Hissen der Flagge am Präsidentenpalast. Trotz Dunkelheit und Kälte ist der Platz vor dem Gebäude gut gefüllt. Freiwillige Helfer verteilen kleine Fähnchen und dazu warme Getränke. Es schlägt gerade sechs Uhr, als mit einem Knarzen die Lautsprecher angeschaltet werden. Einer formellen Ansprache folgt das traditionelle Flaggehissen. In der beginnenden Dämmerung wird ein Meer aus rot, weiß und blau – den Nationalfarben – sichtbar. Gut gelaunt und Fähnchen schwenkend sehen die Taiwaner dem neuen Jahr entgegen und auch wir lassen uns anstecken. Übermüdet aber glücklich machen wir uns auf den Rückweg. Ein gelungener Start ins neue Jahr!
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