Im ersten und zweiten Teil ihres Reiseberichtes hatte China Tours-Praktikantin Laura Dostal von ihrer Ankunft bei den Mosuo am Lugu-See in Yunnan erzählt. Im letzten Teil berichtet sie, wie sie die älteste Mosuo-Dame des Dorfes trifft.
Als mein Freund, mit dem ich bisher gereist bin, aufbricht, um allein noch weiter in den Norden Yunnans zu ziehen, verbringe ich zunächst einen Tag allein am See, lese, gehe spazieren und unterhalte mich mit dem Mädchen aus unserem Gasthaus. Einen Nachmittag lerne ich eine Gruppe junger Chinesen kennen, die alle schick im Büro-Outfit zum Betriebstagesausflug aus Lijiang angereist kommen. Sie freuen sich, außer den Mosuo noch eine viel „exotischere“ Bekanntschaft, nämlich die einer Deutschen, zu machen. Nach dem Essen machen wir also ein schönes Gruppenfoto, dann begeben sich die Herrschaften auch schon wieder zurück in den Bus nach Lijiang.
Nach zwei sehr ruhigen Tagen, klingelt dann endlich mein Handy und meine chinesische Freundin Candy ist am Apparat. Wir hatten verabredet, uns hier zu treffen, da sie eine amerikansiche Journalistin begleiten wollte, die sich vorgenommen hat, mit der ältesten Mosuo-Frau am Lugu-See zu sprechen, um etwas über die Geschichte der Mosuo zu erfahren.
Die beiden kommen mich also am Mittag abholen, haben Joe, einen jungen Mosuo-Cowboy und Bekannten von Candy dabei, und verkünden, dass dieser uns nun seine Familie in einem abgelegeneren Dorf vorstellen wolle.
Dort aber zunächst einmal hinzukommen, ist gar nicht so leicht. Von unserem Ufer-Dorf wandern wir eine Weile in Richtung Sichuan- denn der Lugu-See liegt praktisch auf der Grenze beider Provinzen- bis wir wieder an eine befahrene Straße kommen. Cynthia, so heißt Candy´s amerikanische Journalistin, und ich hofften, dass Joe nun einfach einen Lkw-Fahrer anhalten würde, der uns ein Stück mitnehmen könnte, doch er verkündet gleich, dass er da keine Chance sähe. „Warum wollen die uns nicht mitnehmen?“ wundern wir uns, nachdem sich zwei oder drei Fahrer tatsächlich geweigert haben. Der Grund ist, dass Fahrer auf der Sichuan-Seite des Sees eine Lizenz benötigen. Die meisten hier aber haben keine, klärt Candy uns auf.
Irgendwann erreichen wir dann doch ein kleines Dorf an einem Hügel. Joes Familie lebt hier auf einem kleinen Hof, auf dem überall Hühner frei herumlaufen. Ansonsten wirkt der Hof eher schlecht gepflegt, das Haus zeigt die Armut der Menschen, die mich doch etwas schockiert. So ein spartanisches Leben habe ich in der chinesischen Stadt noch nicht gesehen. Der gut gelaunte Joe aber macht uns Mut und freut sich, uns seine fast 100 Jahre alte Großmutter, den Großvater, sowie seine Schwester mit ihrem neu geborenen Baby vorzustellen.
Yongmu heißt die alte Mosuo- Dame, die zunächst ein wenig teilnahmslos und fast ängstlich wirkt. Sie fragt ihren Enkel, wer wir seien. „Sie möchten deine Geschichte hören, Nainai (so lautet die Anrede für Großmutter), ruft Joe so laut, dass sie es auch versteht. Nainai fängt an zu weinen. Noch nie hat sich irgendjemand für ihre Lebensgeschichte interessiert.
Die Unterhaltung mit Yongmu ist nicht ganz einfach. Zwar spricht sie Hochchinesisch, und wenn es Schwierigkeiten gibt, übersetzt ihr Enkel. Doch scheint sie, was bei ihrem hohen Alter kein Wunder ist, Schwierigkeiten mit der Reihenfolge der Ereignisse ihres Lebens zu haben. Das, was sie sagt, lässt uns jedoch sprachlos. Yongmu erzählt, dass sie als Mädchen, nachdem ihre Eltern gestorben waren, als Sklavin bei den „Tusi“ gehalten wurde. Die „Tusi“ waren Feudalherrscher, Vorherrscher der Stämme, die sich damals noch gegenseitig um Vorherrschaft bekriegten, bevor im Jahr 1949 die Volksrepublik ausgerufen wurde.
„Ich hatte nichts und musste mich um ihre Häuser und Kinder kümmern. Mein Kind musste ich den ganzen Tag allein lassen. Wir lebten im Wald. Zu essen hatten wir bloß Maisbrei in Wasser gekocht.“
Manchmal scheinen die Teile des Puzzles nicht zusammen zu passen. Dann berichtet Yongmu plötzlich, dass sie bis zu dem Zeitpunkt, als die Kommunisten an die Macht kamen, keine Kinder gehabt hätte, obwohl sie vorher erwähnt hat, wie sie ihr Kind in Gefangenschaft allein im Wald lassen musste. Yongmu ist vergesslich und kriegt nicht mehr alles zusammen, doch ihre Andeutungen lassen auch Tragisches vermuten.
Die alte Frau und ihr Ehemann Nong Bu, mit dem sie seit vielen Jahren zusammen lebt, loben die Kommunisten als ihre Retter. Plötzlich seien sie frei gewesen, hätten einen Hof und ihr eigenes Land erhalten. Die ersten Jahre nach der Revolution seien hart gewesen, manchmal mussten sie die Maiskörner aus den Exkrementen der Pferde lesen, und diese dann kochen, um etwas zu essen zu haben. Doch es wurde besser. Sie konnten eigene Tiere halten und sich selbst ernähren.
Nach dem Gespräch werden wir ins „Wohnzimmer“ zum Essen eingeladen. Auf einem Lager nahe des Ofens sitzt Joe´s Schwester mit ihrem Freund und ihrem winzig kleinen Baby. Die beiden sehen sehr glücklich aus und erzählen uns später, dass sie für immer zusammen leben wollen, wie ein richtiges Ehepaar. Auch das gibt es also bei den Mosuo, bei denen die Männer sonst traditionell auf dem Hof ihrer Mutter, bzw. Schwester wohnen, und ihre Lebenspartnerin lediglich besuchen.
Für mich steht nun eine große Herausforderung dieser Reise an. Als besondere Gäste wurde ein gutes Mahl für uns zubereitet, bestehend aus Hühnersuppe, in der hauptsächlich Haut zu schwimmen scheint, Schweinefleisch und Schweinefettstreifen. Ein Topf Reis steht auf einer niedrigen Ablage im offenen Wohnzimmer, in dem auch die Hühner von draußen herumstolzieren. Alles wirkt ein bisschen schmutzig; in Kunming und vorallem der ausländischen Presse hört man zur Zeit ständig von der Ausbreitung der Vogelgrippe; im übrigen nenne ich mich gern „Halbvegetarierin“, da ich kein großer Fan von Fleisch bin. Man kann sich vorstellen, dass dieses Essen tatsächlich eine Mutprobe für mich darstellte. „Sie haben es extra für uns gekocht, es wäre sehr unhöflich, es nicht zu essen", gibt Candy mir zu bedenken. Ich bedanke mich lächelnd für die Schüssel, greife zu den Stäbchen und nehme mir mit diesen ein Stück Schweinefleisch, das zu meiner Überraschung ziemlich schmackhaft ist, und an dem ich mich für die nächste halbe Stunde knabbernd festhalte, um nicht das Schweinefett und die Hühnerhautsuppe probieren zu müssen.
Als wir den Tag am Abend mit Joe und einem Gitarre spielenden, singenden Freund von ihm bei chinesischem Feuertopf ausklingen lassen, bin ich ganz schön erschöpft und weiß unser fröhliches Beisammensein bei gutem Essen sehr zu schätzen. Doch trotz eines kleinen „Kulturschocks“, den ich auf dem Hof der Familie wohl erlitten habe, bleibt mir der Besuch bei Yongmu und ihrer Familie als besonders schönes Erlebnis in Erinnerung. Ihre Erzählungen haben mich mehr beeindruckt als jedes Buch, das ich über Chinas Vergangenheit gelesen habe. Besonders hat mich gefreut, ihre Enkelin, ein Mädchen in meinem Alter, kennengelernt zu haben. Yongmu darf nun erleben, wie glücklich ihre Enkelin ist, die in eine neue Generation hineingeboren wurde und sich zwischen dem schützenden Familiensystem der Mosuo und der wahren Liebe fürs Leben ihren ganz eigenen Weg sucht.
[gallery link="file" order="DESC" columns="4"]