Als „das Heiligste Gebirge unter dem Himmel“ stellt der Wudang-Berg (武当山Wudangshan) in der Provinz Hubei (湖北) eine der wichtigsten daoistischen Kulturstätten dar. Wie an kaum einem anderen Ort in China ist hier die ursprüngliche Tradition und Kultur des Daoismus erhalten geblieben. Hunderte Mönche praktizieren in den Klöstern und Tempeln dieser UNESCO Weltkulturerbestätte, und in manchen der alten Meditationshöhlen sind sogar Einsiedler zu finden, die hier ein Leben der Abgeschiedenheit führen.
Verfasst von Lukas Weber mit der freundlichen Unterstützung von Benjamin Ruß.
Im Daoismus finden sich viele Elemente der altertümlichen chinesischen Kultur bewahrt, die zur Zeit der Mongolenherrschaft (Yuan Dynastie 1279-1368) in diesen integriert und dadurch bis heute erhalten geblieben sind. So wurden die typischen weißen Strümpfe der daoistischen Mönche einst im ganzen Volk getragen, und auch die zum Zopf hochgesteckten langen Haare, an denen ein Daoist leicht von einem Buddhisten zu unterscheiden ist, sind Erbe der traditionellen Kultur Chinas, die im Daoismus gepflegt und erhalten geblieben ist.
Es ist daher nicht leicht, eine Darstellung einiger daoistischer Elemente zu verfassen, ohne vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen. Denn „Daoismus“ bedeutet ein gigantisches Panoptikum der unterschiedlichsten Themengebiete zu denen die traditionelle chinesische Medizin ebenso hinzugehört wie Feng Shui, Musiklehre, Kampfkunst, Polarismus von Yin und Yang, 5-Elemente-Lehre und Wahrsagerei.
Anhand des konkreten Beispiels des heiligen Wudang-Berges werden ein paar Charakteristika dieser Religionen veranschaulicht und für angehende Chinareisende ein Weg zur Vermeidung klassischer Fettnäpfchen aufgezeigt.
Am Wudangshan dreht sich alles um den „großen Kaiser und wahren Krieger des dunklen Himmels“ (玄天真武大帝 XUANTIAN ZHENWU DADI, kurz: Zhenwu), dem der Berg gewidmet ist. Der Legende nach soll Zhenwu, der wahre Krieger, einst ein junger Prinzensohn gewesen sein, der sich vor mehreren tausend Jahren in die Wudang-Berge zurückzog, um dort sein inneres Selbst zu kultivieren. Seine Geschichte ähnelt jener von Buddha Siddartha Gautama: Auch sie handelt vom Verzicht auf weltliche Güter zugunsten von Tugenden und inneren Werten durch Selbstkultivierung.
Der „Abhang des Prinzen“ ist einer jener Orte, wo Zhenwu während seiner 42 Jahre am Wudangshan meditierte. Hier befindet sich ein beeindruckender Tempel aus der Zeit der Ming-Dynastie, dessen Architektur das daoistische Denken auf anschauliche Weise versinnbildlicht: Um in den Tempel zu gelangen folgen wir einem schlangenförmig angelegten Weg, der von hohen Mauern gesäumt ist. Wie ein mäandernder Fluss windet er sich den „Abhang des Prinzen“ empor und verhindert damit das Eindringen von negativem Qi. Das „Qi“, welches man in etwa als „kosmische Energie oder Vitalkraft“ übersetzen könnte, spielt im klassischen chinesischen Denken eine wichtige Rolle. Besonders im Fengshui, der Lehre von der harmonischen Architektur, ist es von entscheidender Bedeutung. Während in traditionellen Hofhäusern oft eine Mauer hinter dem Eingangstor die negative Energie abblocken soll, hat man im Tempel am Prinzenhang eine ganz besondere Lösung gefunden: Da negatives Qi sich geradlinig bewegt, gutes Qi jedoch wellenförmig, kann der gewundene Weg ins Innere des Tempels nur von gutem Qi bewältigt werden.
Um einen Tempel zu betreten muss man stets über die kniehohe Schwelle steigen. Ein erstes Fettnäpfchen kann vermieden werden, indem man nicht direkt auf die Schwelle drauftritt. Aber auch die Stelle an der man die Schwelle überschreitet, will mit Bedacht gewählt sein. Entweder steigt man mit dem rechten Fuß rechts über die Schwelle oder mit dem linken Fuß links. Die Mitte der Schwelle bleibt beim Betreten wie auch beim Verlassen des Tempels stets den göttlichen Geistern (神SHEN) vorbehalten.
Überschreitet man die Schwelle, wird man mit den Torwächtern „weißer Tiger“ und „schwarzer Drache“ zu beiden Seiten des Eingangs konfrontiert. Sie verhindern das Eintreten schlechter Menschen. Manchmal sind auch Rehe oder Kraniche über die Eintrittstür gemalt, die ebenfalls ein Symbol dafür sind, dass die hier Eintretenden von guter Gesinnung sind.
Wie in den meisten daoistischen Tempeln befindet sich im Innenhof des Tempels am Prinzenhang ein Brunnen. Die Legende besagt, dass Zhenwus Mutter ihn einst aufsuchte um ihn zur Rückkehr an den Hof zu überreden. Er aber verweigerte ihre Bitte und sie musste erkennen, dass er es mit dem Leben in abgeschiedener Meditation ernst meinte. Da weinte sie und an der Stelle auf die ihre Tränen fielen, entstand eine Quelle. Der Brunnen im Innern des Tempels symbolisiert die Tränen von Zhenwus Mutter und er stellt ein symbolisches Denkmal für die Schmerzen der zurückgelassenen Familie dar.
Das riesige Areal des Wudang Gebirges beherbergt mehr Klöster und Tempel als in einem oder zwei Tagen besichtigt werden können, selbst wenn die größten Distanzen von bis zu 15km zwischen den Tempeln mit dem Bus bewältigt werden. Trotzdem ist der Wudangshan alles andere als eine gemütliche Spazierfahrt, denn am Ende der Fahrstraße beginnt erst der anstrengende Aufstieg zum 1.612m hohen Hauptgipfel des Berges.
Unterwegs auf den steilen Stiegen kommt man an der Stelle vorbei, an der Zhenwu nach Jahrzehnten der Meditation die Offenbarung erlangte. Die Legende besagt, dass er eines Tages, während er auf einem hohen Felsen meditierte, von einer wunderschönen Frau besucht wurde, die ihn in Versuchung zu führen versuchte. In Wahrheit war es sein Meister, der ihn in fremder Gestalt testete, Zhenwu aber hielt sie für einen Dämon und vertrieb sie mit seinem Schwert. Die Frau war beschämt und sprang in ihrem Kummer von dem Felsen in den Tod. Da sagte Zhenwu zu sich selbst: „Ich habe nicht 42 Jahre lang mein inneres Selbst kultiviert, um nun eine unschuldige Frau derart ins Unglück zu stürzen.“ und er sprang seinerseits von dem Felsen um mit seinem Leben für ihres zu bezahlen. In diesem Moment wurde Zhenwu unsterblich und aus dem See unterhalb des Felsens stiegen fünf Drachen auf, die ihn in den Himmel (五龙捧圣) trugen.
Nach einem schweißtreibenden Aufstieg, auf dem man an mehreren Tempeln vorbeikommt, erreicht man den sogenannten „Himmelspfeiler Gipfel“, welcher mit 1612m den höchsten der insgesamt 72 Gipfel des Wudang Gebirges darstellt. Hier ist beinahe so etwas wie eine kleine Klosterstadt entstanden, die sich malerisch um den Gipfel windet. Als bedeutendstes Bauwerk auf der Bergspitze gilt ein vergoldeter Kupfertempel aus dem Jahr 1416. Erstaunlich daran ist, dass er aus nur fünf, insgesamt 90t schweren Einzelteilen besteht, die in Beijing gegossen und über eine Strecke von über 1000km auf den Gipfel des Wudangshan transportiert worden sind.
Im Innern des Tempels befindet sich eine weitere Statue des wahren Kriegers Zhenwu, die allein schon 10t wiegt. Wenn es auch während des Aufstiegs bereits viele Gelegenheiten gab, so sollten auf jeden Fall an dieser Stelle ein paar Räucherstäbchen entzündet werden. Dabei gibt es wiederum Einiges zu bedenken: Zuerst einmal immer nur 3, 6 oder 9 Räucherstäbchen entzünden, denn dies sind heilige daoistische Zahlen. Keinesfalls aber dürfen es 4 Stäbchen sein, da diese Zahl den Tod repräsentiert.
Zum Anzünden wird ein Räucherstäbchen in der linken Hand gehalten und unter keinen Umständen sollte man die Flammen mit dem eigenen Atem ausblasen. Während der Verbeugung hält man die Stäbchen mit der rechten Hand unterhalb der linken fest und beugt sich dreimal nieder. Will man allen Statuen einer Tempelhalle ein Opfer darbringen, darf man die korrekte Reihenfolge nicht vergessen: Da die Mitte am wichtigsten ist, verbeugt man sich zuerst nach vorne, anschließend nach links und zuletzt nach rechts.
Wer eine umfassende Verbeugung (ohne Räucherstäbchen) machen will, beginnt mit drei kleinen Schritten Richtung Altar, wobei der linke Fuß zuerst aufgesetzt wird. Die korrekte Handhaltung beachtend macht man eine kleine Verbeugung, legt dann die linke Hand aufs Herz und beugt sich auf das Polster vor dem Altar nieder. Die rechte Hand berührt das Polster, die linke legt sich darüber und zuletzt berührt man dreimal hintereinander die übereinandergelegten Hände mit der Stirn. Wichtig ist vor allem, dass dabei das Gesäß nicht höher ist als der Kopf. Ferner sollen sich Männer mit gespreizten, Frauen hingegen mit geschlossenen Beinen verbeugen.
Während des Niederbeugens schlägt für gewöhnlich ein beisitzender Mönch eine bronzene Klangschale. Der klare Klang soll den Gott herbeirufen, dem gehuldigt wird, denn womöglich befindet er sich gerade anderswo und merkt gar nicht, dass ihm gerade ein Gläubiger Referenz erweist.
Hinterher richtet man sich wieder auf, macht eine weitere kleine Verbeugung mit der entsprechenden Handhaltung und wiederholt die gesamte Prozedur noch weitere zwei Mal (insgesamt also dreimal Niederknien und neun Verbeugungen). Zum Schluss kann ein Opfergeld in die Spendenbox gesteckt werden oder man dreht sich gleich nach links, macht einen kleinen Schritt, dreht sich ein weiteres Mal nach links, dem Ausgang zu, und steigt über die Schwelle hinaus.
Anstatt einer einzigen korrekten Handhaltung müssen die Mönche eine Gesamtzahl von 108 verschiedenen Grüßen beherrschen und diese in jeder nur erdenklichen Situation richtig anwenden. Aber auch alle anderen Lebensbereiche sind von einem strengen Ritualkodex geregelt und des Abends darf ein Mönch sich nicht einfach in die Federn werfen, sondern auch während des Nachts gilt es, eine ganz bestimmte Schlafposition einzunehmen.
Laien sollte dies aber nicht vom Besuch daoistischer Tempel abschrecken, denn mit den hier gegebenen Anweisungen dürfte es ein Leichtes sein, sich nicht als totaler Kulturbanause auszuweisen. Möglicherweise weiß man damit sogar schon mehr als der durchschnittliche chinesische Tourist.
Lesen Sie mehr über die Kampfkunst am Wudang-Berg.