Ein Deutscher auf dem Weg des Daoisten – Tischgespräch mit Benjamin Ruß

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Benjamin Ruß wurde 1983 in Langenfeld, im Rheinland zwischen Düsseldorf und Köln, geboren. Sein Leben lang war er auf der Suche nach einem tieferen Sinn und fand ihn schließlich, als er mit zwanzig Jahren nach China in die Wudang-Berge ging. Was als Trainingsaufenthalt für Kungfu angefangen hat ist mittlerweile zu einem Leben nach daoistischen Prinzipien geworden.

Wie kommt ein Deutscher aus dem Rheinland in die tiefste chinesische Provinz?

Das hat nichts damit zu tun, dass ich unbedingt in die tiefste chinesische Provinz wollte, sondern damit, dass der daoistische Wudangshan hier zu finden ist, der mich mit seiner jahrtausendealten Geschichte angelockt hat.

Wie hat deine Auseinandersetzung mit dem Wudangshan begonnen?

Als Jugendlicher fand ich einfach Kungfu aus China cool und weil ich viele Filme geschaut habe, verstand ich darunter Shaolin-Kungfu. Die Shaolin-Mönche waren richtige Vorbilder. Für mich gab es nichts Heiligeres: Die lebten im Kloster, die waren Vegetarier, die übten Kungfu von morgens bis abends und sogar Nachts (wie es im Film dargestellt wird). Sie beherrschten den Umgang mit allen möglichen Waffen und waren auch noch übelst gebildet in Philosophie und Weisheit und Meditation. Für mich gab es kein besseres Ideal. Kein Actionheld wie Chuck Norris oder Sylvester Stallone oder Arnold Schwarzenegger. Ich habe immer gedacht: Shaolin Mönch, das wäre das absolut Höchste was man erreichen kann.

Ich wusste damals noch nichts von Wudang. Ich wusste damals nur, China, das sind Shaolin Mönche und cooles Kungfu. Shaolin galt für mich als die Mutter der Kampfkünste. Dass ich das so verstanden habe, lag halt daran, dass ich nur Filme geschaut habe und die kennen sich nicht wirklich mit chinesischer Kultur und Geschichte aus.

Dass Wudang-Kungfu und Shaolin-Kungfu zwei völlig verschiedene Dinge sind, wobei Wudang-Kungfu wirklich an der Wurzel der chinesischen Kultur liegt und Shaolin-Kungfu vom Buddhismus aus Indien her beeinflusst wurde, das ist mir später erst klargeworden.

Was hat dich am Kampfsport in erster Linie angezogen?

Ich glaube in erster Linie waren die ausschlaggebenden Effekte eher, dass ich irgendwas Cooles machen wollte. Ich wollte immer anerkannt werden und ich wollte immer etwas machen, was andere nicht machten. Kämpfen und so, das hat mich immer schon fasziniert. Das hat vor allem meinem Selbstwert was gegeben.

Es ist aber nicht zu unterschätzen, dass ich mich damals auch schon für die Dinge dahinter interessiert hab. Es ging vor allem auch um eine Suche – meine Suche zu tiefen philosophischen Sinnfragen. Ich habe immer nach mehr gesucht und ich konnte mich in der christlichen Theologie nie zuhause fühlen. Obwohl ich in eine katholische Grundschule gegangen bin und die ganzen Geschichten über Jesus gehört habe, hat mir das nie wirklich viel gegeben.

Es begann also damit, dass du etwas Cooles machen wolltest?

Ich war übermotiviert, ich habe mich immer mehr reingesteigert. Irgendwann wurde das mehr und mehr. Als Schwein (im chinesischen Sternzeichen) neige ich zu körperlichen Exzessen. Irgendwann habe ich jeden Tag trainiert, habe gegen Bäume geschlagen, um mich abzuhärten, habe mir die Knöchel kaputt gemacht. Weil ich übermotiviert war. Übers Ziel hinausgeschossen, alà was einen nicht umbringt macht einen härter. Wir sind durch kalte Bäche gewandert einfach nur weil wir krass sein wollten. Total übertrieben. Heute, nach jahrelanger Leitung durch meinen Meister Wang Xing Qing hier in Wudang, weiß ich, dass alles Balance sein muss und dass es hauptsächlich auch um Gesundheit gehen muss. Es gibt nur zwei Sachen die uns wirklich gehören: unser Körper und unser Wissen. Der Körper ist sterblich und das Wissen können wir verlieren wenn es dem Körper nicht gut geht. Daher ist Gesundheit das Allerwichtigste, aber das war mir damals egal.

Wann kamst du erstmals nach Wudang?

2003 war ich mit der Schule fertig und habe wie verrückt angefangen zu arbeiten, um die Kohle zusammenzukriegen um nach China gehen zu können. Gleichzeitig habe ich immer mehr geforscht. Natürlich wollte ich ins Shaolin-Kloster, aber als ich begann Recherche zu betreiben, hat mich das immer weiter weg getrieben, weil es hieß: Tourismus, Tourismus, Tourismus.

Dann aber bin ich auf Wudang-Kungfu gestoßen, habe gehört dass Wudang die Geburtsstätte von Taiji und das Gegenstück zu Shaolin-Kungfu ist: Innere und Äußere Kampfkunst. Und dann war es klar: Ich wollte für 12-18 Monate nach Wudang gehen. Das ist jetzt fast 10 Jahre her.

Seit 9 Jahren bist du nun hier bei Meister Wang in der Schule. Wirst du selbst auch eines Tages Meister werden oder was bringt die Zukunft?

Es ist in China so: Es gibt keine Gürtel, es gibt keine Prüfung, alles hängt davon ab, wie der Meister zu dir steht. Wenn der Meister das Gefühl hat, dass er seinem Schüler alles gesagt hat und dass der Schüler von ihm nichts mehr lernen kann, dann sagt er: „Du bist Meister, geh raus.“

Und wie lange dauert das bei dir noch?

Das dauert bei jedem unterschiedlich lange und bei mir ist natürlich schade, dass ich immer wieder Unterbrechungen hatte. Man muss sich vor Augen führen, dass ich in diesen neun Jahren auch fünf Jahre studiert habe und alles in allem nur viereinhalb der neun Jahre in Wudang war. Viereinhalb Jahre sind schon sehr lang, aber viereinhalb Jahre am Stück sind besser für das Kungfu als viereinhalb Jahre mit Unterbrechungen. Dafür konnte ich durch die Unterbrechungen immer wieder neu reflektieren und den Übergang zwischen Gesellschaftsleben und Kungfu-Training besser in den Griff bekommen.

Es hat also auch Vorteile. All das Philosophische, das Weltentrückte, das intensive Training, steht im krassen Gegensatz zum Alltagsleben mit Job und Familie; das zu vereinbaren muss auch erst einmal gelernt werden und in dieser Hinsicht bin ich natürlich jetzt schon erfahrener. Ich hatte in den neun Jahren wirklich Zeit, dies mit dem Alltag zu verbinden und immer wieder nachzudenken: Was hat das Kungfu für einen Wert für mein Leben, was ist mit der Philosophie dahinter, was hilft mir das an Erkenntnissen?

Kannst du deine Erkenntnisse auf einen Punkt bringen?

Natürlichkeit. Nach all den Jahren ist für mich das Greifbarste und das woran ich mich am besten halten kann, DIE Grundregel des Daoismus, die da heißt: DAOFA ZIRAN (道法自然); das Gesetz des DAO ist die Natur.

Wir sind nun mal natürlich. Wir haben Höhen und Tiefen, haben wechselhafte Gefühle, wie auch in der Natur Kreisläufe existieren. Es gibt Nacht und es gibt Tag. Jedes Ding, das sich auf der Welt erfahren lässt, hat etwas Positives und etwas Negatives. Alles was der Daoismus als diese natürlichen Gesetze bezeichnet, hat für mich nach wie vor absolute Gültigkeit. Es sind nicht die Geschichten wie im Christentum, sondern es sind die Prinzipien dahinter, die logisch erscheinen. Das Gute daran ist, dass sie nicht dogmatisch auf mich wirken, sondern immer wieder aus natürlichen Dingen auf mich zukommen.

Praktisch heißt das, dass ich mir meine Freiheiten lasse, natürlich zu sein. Ich versuche mich nicht zu disziplinieren oder einzuschränken, mich nicht schlecht zu machen. Ich lasse mir meine Fehler und versuche mich nicht gekünstelt zu verhalten oder in eine Rolle zu schlüpfen – und das meine ich mit DAOFA ZIRAN. Denn das DAO von dem man abweichen kann, ist nicht das echte DAO.

Es ist für viele Leute nicht von vornherein verständlich, dass Kampfkunst mit so viel Philosophie einhergeht. Hast du diese beiden Phänomene zuerst auch als zwei separate Dinge aufgefasst oder ging das während deiner Ausbildung Hand in Hand?

Benjamin Ruß bei seinen Übungen auf dem Berg Benjamin Ruß bei seinen Übungen auf dem Berg

Es ist so, dass ich mit dem Wudang-Kungfu auf ein Phänomen getroffen bin, in dem alles ganzheitlich praktiziert wird. Hier trennt man solche Dinge nicht. Das Kultivieren der inneren Werte, der inneren Energien kann sich überall widerspiegeln. Die Philosophie findet sich in jeder Lebensart, beim Essen, beim Trainieren, beim Nachdenken. Und auch die Künste haben immer wieder die gleichen Prinzipien – ob du dich mit Fengshui auseinandersetzt oder mit TCM (Traditionelle Chinesische Medizin), ob mit Taiji oder Bagua, oder auch mit Musik, das hat alles Yin und Yang als Prinzip. D.h. wenn du dich mit einer Sache sehr beschäftigst, wirst du automatisch auch die anderen Aspekte kennenlernen.

Diese Ganzheitlichkeit gibt es natürlich auch anderswo, z.B. im Buddhismus. Aber für mich war es eben der Daoismus, der mich am stärksten angezogen hat.

Würdest du dich selbst als „Daoist“ bezeichnen?

Klar sehe ich mich oft als Daoist, aber wenn ich den Begriff mal unter die Lupe nehme, mich unter die Lupe nehme, andere Leute unter die Lupe nehme… Was ist ein Daoist? Wo fängt er an wo hört er auf? Antworten auf diese Fragen beschreiben fließende Übergänge und alle möglichen Ausdrucksformen.

Auch im Daoismus gibt es Erscheinungen, die mir nicht gefallen. Nur weil ich mich manchmal als Daoist sehe, heißt das nicht, dass ich etwas Bestimmtes repräsentieren muss oder dass ich mit allem konform gehen muss was es im Daoismus gibt. Glücklicherweise verlangt der Daoismus auch nicht auf Biegen und Brechen irgendwelchen Regeln oder Gepflogenheiten gerecht zu werden. Der Daoismus ist in erster Linie frei: Alles ist DAO, jeder Mensch ist im DAO, nichts kann vom DAO abweichen.

Da ich in erster Linie aber kein religiöser Mensch bin, sehe ich das alles eher vom philosophischen Aspekt.

Was bedeutet, neben Kungfu, der Weg des Daoisten noch für dich?

Ich meditiere zweimal täglich, morgens und abends. Dies ist wichtig für die Pflege des Qi. Die Energiezentren im Körper müssen immer wieder aufgefüllt werden – und dazu braucht es Regelmäßigkeit, sonst verliert man es. Was man da in sich tragen kann ist etwas sehr sehr Kostbares, das eine tiefe Verbundenheit mit dem eigenen Selbst, mit den eigenen Energien und dem eigenen Körper bedeutet.

Mit dem Jugendlichen, der einfach etwas Cooles machen wollte, hat das nicht mehr viel zu tun. Was" macht für dich heute den Reiz an der Sache aus?

Ganz nach dem Motto „XUE WU ZHI JING“ (学无止境 – man lernt nie aus), kommt man immer tiefer in die Materie hinein. Es ist eine Sache von der man nicht sagen kann „na gut, machen wir das halt mal und lassen es dann“. Man vergisst es auch nie wieder. Es ist eine richtige Lebenseinstellung, kein Hobby, kein Hype, keine Modeerscheinung. So etwas macht man aus tiefstem Herzen.

Ich habe das hier gefunden und ich wusste, hier bin ich zuhause.

Jetzt mal eine ganz andere Frage: Wurdest du schon einmal in einen Kampf verwickelt, bei dem du deine Kampfkunst nutzen musstest?

(seufzt) Ja, schon mehrfach.

Wie kam es dazu?

In der Disco oder auf Dorffesten beobachtet man manchmal Situationen in denen sich zwei Parteien prügeln und man sagt sich: „WUWEI“ (无为 – nicht handelnd handeln); es regelt sich von alleine. Ich kann ja auch keine Kriege verhindern.

Aber wenn ich will, dann kann ich dank meiner Kampfkunst einen Teil dazu beitragen. Wenn ich Ungerechtigkeiten sehe, z.B. wie jemand seine Frau schlägt oder wenn ein Pärchen von Schlägertypen angepöbelt wird, dann kann ich mich einmischen. Und das habe ich auch schon getan.

Ich bin jetzt aber nicht jemand, der so was sucht, bekomme nie Probleme, weil mein äußeres Erscheinungsbild eher nachgiebig ist. Ich habe es nicht nötig bei jeder Gelegenheit zu zeigen was ich kann. Wenn mich jemand blöd anredet, sage ich „Entschuldigung“, weil ich weiß, dass ich das mit Taiji bekämpfen kann. In dem Moment wo ich nachgebe bekämpfe ich meine eigene Aggressivität, meinen inneren Wolf. Und ich besiege meinen Stolz. Statt mich als Kampfkünstler körperlich zu wehren nehme ich den inneren Kampf auf und versuche die negativen Qualitäten meines Ichs mit Taiji zu besiegen.

Wenn ich jedoch andere Leute in Schwierigkeiten sehe und ich dabei das Gefühl habe, dass ich da gut helfen könnte, dann mache ich das gerne und ohne Rücksicht auf Verluste auf meiner Seite.

Was war dein bisher schlimmstes Erlebnis in dieser Hinsicht?

Ich hatte hier in Wudang eine Begegnung wo ich mit vier Leuten mit Messern kämpfen musste. Da war ich im Internetcafé und hörte plötzlich Geschrei hinter mir. Jemand griff mit einem Messer den Kassierer hinter dem Tresen an. Keiner half. Niemand. Dann bin ich eben dazwischen gegangen. Ich dachte zuerst es wäre nur ein Angreifer, aber es waren fünf, vier von denen mit Messern. Es war ziemlich wild und ich bin froh, dass ich da heil rausgekommen bin.

Allerdings weiß ich nicht, ob die bis zum Letzten gegangen wären. Wenn sie das gewollt hätten, dann wäre ich jetzt vielleicht nicht mehr da – schließlich waren sie zu viert.

Wie lassen sich solche ernsten Angelegenheiten mit den philosophischen Aspekten unter einen Hut bringen?

Wudang-Kungfu ist für mich ein ganzheitlicher Lebensweg, der Körperertüchtigung, Philosophie, Gesundheitspflege, Körperbeherrschung, Selbstverteidigung und Kultur sowie Lebensführung vereint. Ein ganzheitliches Phänomen, bei dem man sich deswegen so wohl und zuhause fühlen kann, weil alle Aspekte in starker Wechselbeziehung zueinander stehen.

Wenn du in Deutschland unterrichten würdest, würdest du außer Kungfu auch andere Aspekte aus dem daoistischen Kosmos zu transportieren versuchen?

Immer. Aber die Leute nehmen sich sowieso das was sie wollen. Ich bin „Benjamin“ für mich anders als für dich. Du nimmst mich anders wahr als meine Frau, mein Meister nimmt mich anders wahr als ihr beiden und für jeden bin ich jemand anderes. Selbst wenn ich dasselbe sage versteht jeder nur das was er interpretiert. Jeder nimmt sich etwas anderes davon.

Ich werde versuchen wahrhaftig zu sein. Ich werde versuchen echt zu sein, ich selber zu sein, um das zu transportieren was ich vertreten kann und woran ich Spaß habe. Was die Leute sich dann nehmen und wer davon begeistert ist und wer nicht ist dann eine andere Frage.

Vielen Dank für das aufschlußreiche Gespräch.

Gerne. Ich habe für dein Interesse zu danken.

 

Das Interview führte Reisereporter Lukas Weber.

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