Chinas endlose Weite – Trekking in Tagong

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Der spärlich besiedelte Westen der Provinz Sichuan bietet eine fabelhafte Alternative zu den lauten, hektischen Städten und den überfüllten Touristenhotspots. In abgeschiedenen Tälern zwischen schneebedeckten Bergriesen findet der Chinareisende nicht nur Ruhe und Abgeschiedenheit, sondern auch Einblicke in Leben und Kultur der Tibeter, welche hier zuhause sind.

Verfasst von Lukas Weber

Am höchsten Punkt der Passstraße nach Tagong Am höchsten Punkt der Passstraße nach Tagong

Als ich erste Nachforschungen über ein mögliches Abenteuer in der Grasebene von Tagong (塔公) anzustellen beginne, werde ich sogleich auf die Sinnlosigkeit dieses Unternehmens hingewiesen. Tagong liegt in den Bergen Westsichuans auf 3.700m Seehöhe und es soll dort „überhaupt nichts zu sehen“ geben. Ich nehme dies als gutes Zeichen und frage meinen chinesischen Gesprächspartner, wie es denn mit Pferdetrekking in der endlosen Weite des grasbewachsenen Plateaus steht.

„Ach, die Grasebene ist nur ganz klein, da kann man nur im Kreis reiten und ist in zwanzig Minuten fertig. Gib’s auf, fahr woanders hin, da gibt’s nichts…“

Erste Begegnung mit der tibetischen Kultur

Etwas skeptisch bin ich dann doch als ich gemeinsam mit meinem englischen Weggefährten Gareth in Kangding (康定) in den Minivan steige, der uns ins 40km entfernt gelegene Tagong bringen soll. Tief hängen die Wolken, in einer trübseligen Lastwagenkolonne kriechen wir zum Pass hinauf. Ein buddhistischer Stupa begrüßt uns auf dem höchsten Punkt der Straße, an jenem Ort, wo die Kultur der Han-Chinesen und der Tibeter sich scheiden. Und dann, auf 4.200m Höhe, lichten sich plötzlich die Wolken und geben den Blick auf eine völlig andere Welt frei.

Die Häuser in diesem Teil Chinas sind gänzlich anders Die Häuser in diesem Teil Chinas sind gänzlich anders

Ein von schneebedeckten Bergen begrenztes, grünes Tal, dessen Hänge mit schwarzen Flecken der weidenden Yaks gesprenkelt sind, erstreckt sich zu unseren Füßen. Es ist noch immer die Provinz Sichuan, doch jener Teil, der seit jeher von Tibetern besiedelt ist. Die billigen Betonbauten weichen buntverzierten Häusern aus Bruchstein und anstatt Werbetafeln schmücken Mantren und Gebetsfahnen unseren Weg. Die buddhistischen Gesänge aus dem Autoradio, die der Mönch am Beifahrersitz mitsummt, vervollkommnen nur noch das in seiner Perfektion kitschige Erlebnis. Mein Herz jauchzt vor Freude.

Tagong

Unter sattblauem Himmel, inmitten der grünen Weite gelegen, ist Tagong mit seinen Klöstern und Stupas das i-Tüpfelchen einer malerischen Landschaft. Die Luft so klar, die Farben so satt. Großartig! Ich frage mich, was mein chinesischer Gesprächspartner an diesem Ort so langweilig fand, steige auf einen kleinen Hügel zu einem Stupa hinauf und verstehe: Ein Schild verkündet „Tagong Grasebene, Eintritt 10 Yuan“. Dahinter liegt ein umzäuntes Gebiet von ein paar Hektar Größe und am Fuße des Hügels entdecke ich nun auch die auf Kundschaft wartenden Pferde. Jetzt wird mir alles klar: In seiner Fixiertheit auf jenen Ort für den Eintritt bezahlt wird („was gratis ist, kann schließlich nicht sehenswert sein“), hat mein damaliger Gesprächspartner schlichtweg übersehen, von welch majestätischer Natur man hier umgeben ist; die endlose Weite der eigentlichen Grasebene, und die dahinter in Höhen von über 6.000m aufragenden Berge.

Ein Blick über die Grasebene von Tagong Ein Blick über die Grasebene von Tagong

Heftig beginnt sich in mir die Bergsucht zu regen, die Sucht nach Einsamkeit und Stille. Tagong, so beschaulich es auch ist, ist noch zu hektisch, noch zu alltäglich. Ich will hinein in die Freiheit der Natur, die sich zu meinen Füßen erstreckt! Ich will das, was die Chinesen野外求生 (YEWAIQIUSHENG) nennen – in der Wildnis überleben.

Vorbereitung auf das Trekking

Den ersten Tag und die erste Nacht in Tagong plagen Gareth und mich Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Es sind die typischen Symptome in der sauerstoffarmen Höhenluft. Wir legen deshalb einen Ruhetag zur Akklimatisierung ein, besichtigen eines der Klöster und zählen von der Terrasse unserer Unterkunft aus die Schäfchenwolken am sagenhaft blauen Himmel. Doch leider werden der Schäfchen immer mehr und bald schon haben wir es mit einer regelrechten Schafsinvasion zu tun, die in kürzester Zeit das blaue Himmelsgras restlos verputzt hat. Dunkler werden die Wolken, Blitze zucken über den Himmel und dann – zwei Tage nachdem ich in Chengdu noch mit kurzen Hosen unterwegs war – beginnen die Schneeflocken zu fallen. Es wird Nacht und über unserer fertig gepackten Ausrüstung für das am nächsten Tag zu startende Trekkingunternehmen hängt ein banges Gebet, dass bis dahin wieder die Sonne scheinen möge.

Einen Tag später ist die Grasebene zugeschneit Einen Tag später ist die Grasebene zugeschneit

Doch hier, auf buddhistischem Territorium, hat Gott nicht sonderlich viel zu melden. Und so begrüßt uns am nächsten Morgen eine frische Schneeschicht, die eben jene Grasebene bedeckt, die zu erkunden wir hierher gekommen sind. Was soll‘s. Auch wenn an ein Übernachten im Zelt nicht zu denken ist, eine kleine Wanderung zu einem der umliegenden Klöster lassen wir uns trotz Schnee nicht nehmen.

Verloren im Niemandsland

Eine Stunde später befinden wir uns irgendwo in der endlosen Ebene, oder besser: nirgendwo. Die Wolken haben uns eingehüllt und die Schneeflocken erneut zu tanzen begonnen. Wo zum Geier ist dieses riesige Kloster, das wir anderntags noch aus 10km Entfernung sehen konnten? Es scheint von der Weite verschluckt worden zu sein – und wir ebenfalls.

Verloren im Nichts Verloren im Nichts

Zwangsläufig taucht die Frage auf, ob wir nicht das GPS unserer Handys zur Orientierung zu Hilfe nehmen sollen. (Anmerkung: Handyempfang ist in China Substandard. Noch vor fließend Wasser oder anständigen Sanitäranlagen gilt „3G“ als Grundbedingung dafür, dass sich ein Ort als „besiedelt“ bezeichnen darf.) Doch nein: „It’s only half the fun with GPS. Besides, who needs the monastery? It’s great out here, isn’t it?” Und großartig ist es tatsächlich, so ironisch es sich auch anhört. Verloren im Schneegestöber auf 3.700m Seehöhe; einzig in der Gesellschaft einiger scheuer Yaks inmitten einer endlosen Weite, die wir aufgrund der dichten Wolken noch nicht einmal sehen können. Außer des leise fallenden Schnees ist kein Geräusch zu hören und so ist es wahrlich großartig!

Schließlich lichtet sich der Wolkennebel für einen Moment und wir sehen das Kloster vor uns. Zwar noch gut eine halbe Stunde zu gehen, aber in Anbetracht der unendlichen Weite ist das ein Klacks.

Ein zahmes Reh auf dem Klostergelände Ein zahmes Reh auf dem Klostergelände

Buddhistische Begegnungen

Das Kloster offenbart sich dann auch tatsächlich als das was es ist: als Kloster. Meditativ, ruhig und beschaulich, wie Klöster eben sind. Doch als wir aufbrechen wollen, ereilt uns eine Überraschung: Ein offenbar zahmes Reh kommt ganz nah heran und lässt sich minutenlang von mir kraulen. Umso bedeutsamer ist die Begegnung, da im Buddhismus Rehe ein äußerst positives Symbol darstellen.

Nur einen kurzen Gang später erreichen wir eine hübsche Ansammlung kleiner, roter Häuser, die von Nonnen bewohnt sind. Die Ansiedlung geht zurück auf einen Mönch, der hier einst in einer Grotte lebte, in der noch heute seine sterblichen Überreste aufbewahrt sind. Vor der Grotte befindet sich ein Gebetsmühlen-Rundgang (sogenannte „Kora“), der von unzähligen, wunderschön gravierten Gebetssteinen geschmückt ist. Während ich Seite an Seite mit Pilgern und Mönchen den Kora-Umgang begehe, sinne ich darüber nach, wie viel Arbeit es wohl gewesen sein muss, die abertausenden Steine zu gravieren.

Impression des Nonnenklosters Impression des Nonnenklosters

Als wir uns auf den Rückweg machen, fällt mir ein kleiner, plastikbezogener Verschlag auf, aus dessen Innerem feine Klopfgeräusche zu hören sind. „Tashi Delek“ (guten Tag), grüße ich und trete näher. Zu meinem Erstaunen sehe ich zwei Männer im Innern des Plastikverschlages am Boden sitzen, die fleißig Schriftzeichen in schwarze Gesteinsplatten klöppeln. Die Geschwindigkeit und Leichtigkeit mit der sie ihre Arbeit vollbringen ist beeindruckend.

Nicht enden wollende landschaftliche Großartigkeit

Der Rückweg nach Tagong bietet sich als freundlich geteerte Straße an, doch das Abenteuergen flüstert verlockend: „Lass uns doch querfeldein gehen, wie wäre es mit diesem Hügel da drüben, bestimmt ist die Aussicht fantastisch…“ Nicht zweimal nachgedacht und schon stapfen wir wieder durch den Schnee, und dann auch noch aufwärts. Ein Hügel mag es sein, doch aufgrund der dünnen Luft auf 4.000m ist er anstrengend genug um als Berg durchzugehen.

Endlose Weite Endlose Weite

Aber es lohnt sich. Die Wolken ziehen auseinander und geben den Blick auf eine spektakuläre Weite frei. Das Kloster in der Ferne, die majestätischen Berge dahinter und überall die schwarzen Flecken der nach Gras suchenden Yaks auf schneeweißem Grund.

Noch einprägsamer aber ist die energetische Ruhe dieses Ortes hoch über Tagongs schneebedeckter Grasebene, der wohl nur selten von Menschen aufgesucht wird. Ich lasse mich auf einem Stein nieder und versinke ganz in mir, versinke in der Weite um mich herum und in der Unendlichkeit, werde ganz klein, ein Punkt im Universum, und ich weiß: Ich bin da.

 

 

 

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