China Tours Geschäftsführer Liu Guosheng ist geboren und aufgewachsen in Pingdingshan in der Provinz Henan. Hier, in der kulturellen Wiege Chinas, steht besonders zum chinesischen Jahreswechsel alles im Zeichen der Tradition. Alljährlich findet im nahegelegenen Majie das Festival der Geschichtenerzähler statt: Seit über 600 Jahren kommen Wandererzähler in dieser Kleinstadt zum Ende der Neujahrsfeierlichkeiten zusammen und feiern ein weltweit einzigartiges Fest.
China Tours Magazin: Herr Liu, im Februar begehen die Menschen in China das Neujahrsfest. Was hat der Jahreswechsel für Sie für eine Bedeutung?
Liu Guosheng: Das Neujahrsfest ist das größte Fest in China. Es ist vergleichbar mit Weihnachten und Silvester in Europa.
China Tours Magazin: Was sind ihre Erinnerungen an das Fest? Wie haben Sie es als Kind verbracht?
Liu Guosheng: Die ersten Tage stehen ganz im Zeichen der Familie – für viele das einzige Treffen im ganzen Jahr. Man isst zusammen, tauscht sich aus und besucht zusammen Verwandte. Viele Familien essen am Neujahrstag Jiaozi, die beliebten Teigtaschen. Ab dem fünften Tag beginnen dann Feierlichkeiten im größeren Rahmen – nun wünscht man Freunden und Bekannten einen guten Start ins neue Jahr. Dann folgen ein paar Tage Ruhe bis zum Laternenfest.
China Tours Magazin: In Majie, einem kleinen Ort in der Nähe Ihrer Heimatstadt Pingdingshan, findet alljährlich vor dem Laternenfest das Festival der Geschichtenerzähler statt. Was hat es damit auf sich?
Liu Guosheng: Das Festival ist weltweit einzigartig. Seit über 600 Jahren treffen sich Tage vor dem Laternenfest Wandererzähler, die während des Jahres durch die Dörfer und Kleinstädte Chinas ziehen und dort Geschichten erzählen. Sie sind das kulturelle Gedächtnis des Landes und der Grund, weshalb die alten Sagen und Märchen nicht in Vergessenheit geraten. Genau wie die Ilias und die Odyssee in Griechenland mündlich weitergegeben wurden, bevor Homer sie aufschrieb, gibt es in China eine Vielzahl von Geschichten, die auf diese Weise am Leben bleiben.
Im ländlichen China sind die Wandererzähler sehr beliebt. Wenn sie aus allen Landesteilen in Majie zusammenkommen, werden sie zum Festival kostenlos bei Dorfbewohnern untergebracht. Für die Menschen in Majie ist es eine besondere Ehre, dass ihr Ort nun schon seit über 600 Jahren Gastgeber für die Erzähler ist.
China Tours Magazin: Was genau können Besucher des Festivals in Majie erwarten?
Liu Guosheng: Nur wenige Europäer finden den Weg nach Majie. Obwohl jährlich Hunderttausende Besucher kommen und lauschen, ist das Fest für Touristen bisher nur ein Geheimtipp. Die berühmtesten und besten Erzähler haben eigene Bühnen, auf denen sie stehen und ihre Erzählungen vortragen.
Ein guter Gradmesser für die Qualität der Geschichten ist immer die Menge, die sich vor der Bühne versammelt. Für Ausländer ohne Chinesischkenntnisse ist es natürlich schwierig, der Handlung zu folgen. Es lohnt sich aber allein schon wegen der Stimmung, dem Festival einen Besuch abzustatten. Es gibt ein großes Rahmenprogramm, einen spannenden Tempelmarkt und den traditionellen Drachentanz. Außerdem begleite ich die diesjährige Laternenreise ja persönlich – kann die besten Geschichten also übersetzen.
China Tours Magazin: Drachentanz...?
Liu Guosheng: Ja, Drachentanz. Der findet am Tag vor dem Laternenfest in Xiangcheng statt. Das ist ein bisschen wie Karneval in Deutschland. Aus den umliegenden Dörfern kommen Trommel- und Gonggruppen nach Pingdingshan. Mit ihren Instrumenten halten sie symbolisch die oft über 100 Meter langen Drachen unter Kontrolle.
China Tours Magazin: Warum muss man die Drachen unter Kontrolle halten?
Liu Guosheng: Das Fest ist sehr emotional. Die Menschen sind froh, dass die Drachen mit ihren übernatürlichen Kräften keine Katastrophen ausgelöst oder die Ernten vernichtet haben. Mit dem bunten Drachentanz machen die Menschen sich Mut, dem mächtigen und schicksalhaften Wesen nicht schutzlos ausgeliefert zu sein.
China Tours Magazin: In Henan, besonders in der Nähe Pingdingshans, kommt man dem Geist des Chinesischen Neujahrsfests also besonders gut auf die Spur?
Liu Guosheng: Das kann man so sagen. Durch die alten Geschichten und die vielen Menschen, die von überallher in die Stadt kommen, entsteht eine besondere Atmosphäre, die wenig mit dem Trubel in Großstädten wie Peking oder Shanghai zu tun hat. Besucher fühlen den Herzschlag Chinas – kein Wunder – wir befinden uns ja auch im Herzland Henan.
Vielen Dank für das interessante Gespräch.