Unser Mitarbeiter Timur Tatlici war in China unterwegs. In seinem mehrteiligen Reisebericht erzählt er von seinen Erlebnissen und Eindrücken in der Provinz Guizhou. An Tag 4 hat er die Fluss- und Schluchtenlandschaft Maling sowie Wanfenglin, den Zehntausend-Gipfel-Wald, in der Nähe der Stadt Xingyi besichtigt. Was er an Tag 3 erlebt hat, erfahren Sie hier.
Xingyi: Auf der Suche nach der Großstadt
Mittlerweile ist es dunkel. Vor mir tauchen die Lichter der Stadt Xingyi auf. Hier soll mein Hotel sein. Die breiten Straßen und die Lichter einiger Hochhäuser lassen eine Großstadt vermuten. Angeblich leben hier rund 800.000 Menschen. Ich vermute aber wieder mal einen Rechentrick. Beziehungsweise nehme ich an, dass eine ganze Menge umliegender Orte, die zum Verwaltungsgebiet Xingyi gehören, einfach zur Stadtbevölkerung addiert wurden. Am heutigen Abend jedoch lässt sich das schlecht sagen, denn die Hauptstraße, an der mein luxuriöses Hochhaus-Hotel liegt, macht einen durchaus großstädtischen Eindruck. Shopping-Zentren, Banken, Geschäfte etc. säumen den breiten Boulevard. Neben dem Hotel ein riesiger Platz. Vielleicht ist es ja doch eine echte Großstadt?
Der nächste Morgen zeigt mir, dass Xingyi zwar gerne eine Großstadt sein möchte, aber noch nicht ganz am Ziel angekommen ist. Zwischen einzelnen, wahllos dahingestreuten Blocks von mehr oder weniger neuen und hohen Häusern befinden sich viele freie und unbebaute Flächen. Die breiten Straßen von gestern zeigen lediglich, dass Xingyi noch großes erwartet. Für die Zukunft geplant, könnte man sagen. Eine Altstadt scheint es nicht zu geben, aber immerhin einige Wohnviertel, die schon länger als fünf Jahre zu stehen scheinen und in denen es recht lebhaft zugeht. Geschäfte gibt es für alles Mögliche, aber zu lesen scheint in dieser Stadt niemand. Ich brauche ewig, um einen Laden zu finden der Bücher oder Zeitschriften anbietet.
Eine andere Art von Geschäft findet sich jedoch in erstaunlich großer Zahl. Große „Massagesalons“ bieten ihre Dienste an. Allerdings erscheinen mir Massagen, die – so steht es draußen unverhohlen dran – bis zu 4.000 Yuan (rund 500 Euro) kosten sollen, irgendwie suspekt. Ein Schelm, wer böses dabei denk. Ich Schelm… Aber ich bin weder in Xingyi, um mir fragwürdige Dienstleistungen zu gönnen, noch um eine Stadt zu besichtigen. Xingyi ist vielmehr Ausgangspunkt für zwei Sehenswürdigkeiten, die heute auf dem Programm stehen.
Die Maling Schlucht: Wasserfall-Inflation
Es ist nicht zu fassen. Nur eine Hand voll Kilometer von der Stadt entfernt bin ich schon wieder in einer Kulisse für einen Fantasy-Film gelandet. Es regnet in Strömen, aber selbst das kann mir die gute Laune nicht verderben. Ich war schon in Schottland und Island, wo es so viele Wasserfälle gibt, dass man irgendwann denkt „ach, schon wieder einer“. Aber nichts hat mich auf das hier vorbereitet.
Ich stehe auf einer Fußgängerbrücke über dem Maling-Fluss. Links und rechts von mir ragen steile Felswände in den Himmel. Die oberen Ränder der Felsen schauen gerade noch aus den tief hängenden Wolken hervor. In den rauschenden Fluss vor mir fällt nicht ein Wasserfall, auch nicht zwei oder drei. Nein, ich kann vier Stück zählen, die mehrere Dutzende Meter hinabstürzen. Steigerung gefällig? Kein Problem! Ich drehe mich um und sehe zwei weitere, einer von links und ein größerer von rechts hinabstürzend.
Trotz des Regens schieße ich Fotos wie ein Irrer. Dabei kommt mir zugute, dass ein großer Teil des Wanderweges durch die Schlucht von Felsüberhängen gegen Regen abgeschirmt wird. Die Felsen selbst bilden durch einen besonderen chemischen Prozess (den ich mir beim besten Willen nicht merken konnte) ganz besondere rote Formen aus, die ein bisschen wie große Schuppen oder steinerne Farnwedel aussehen.
Ich weiß, dass man die Schlucht sehr weit hinabwandern kann, doch das ist für heute nicht vorgesehen. In Anbetracht des anhaltenden Regens und der von Gischt durchnässten Hose, kann ich mich aber halbwegs mit der Idee anfreunden, mittags im Hotel rasch zu trocknen.
Wanfenglin: Die Alternative zu Guilin
Guilin und der Li-Fluss gehören zu den schönsten Fleckchen, die diese Erde zu bieten hat. Das hat sich herumgesprochen. Schon seit vielen Jahren ist der Li-Fluss von Ausflugsbooten übersät. Wie gut, dass es eine Alternative gibt! Und zwar genau vor und unter mir.
Wanfenglin, der Zehntausend-Gipfel-Wald. Hier reiht sich ein Karstberg in Zuckerhutform an den nächsten. Der Name der Gegend ist dabei sogar noch eine Untertreibung, denn es sind in Wirklichkeit sogar rund 25.000 Gipfel, die sich bestaunen lassen. Wie schön muss es hier aussehen, wenn die Wolkendecke und der Regen weniger unbarmherzig sind als heute. Aber sogar jetzt wünsche ich mir nur, irgendwann wieder herzukommen – mit viel mehr Zeit im Gepäck. Denn in den romantischen kleinen Dörfern zu meinen Füßen gibt es Gasthäuser, in denen man übernachten kann. Dann hat man auch die Möglichkeit durch die Gegend zu wandern oder Fahrrad zu fahren.
Heute geht es für mich aber mit dem obligatorischen Touristenwägelchen durch Wanfenglin. Der Wagen fährt zunächst erhöht an einer Bergflanke entlang und macht an zahlreichen Stellen Fotostopps, an denen man die Aussicht genießen kann. Da ich auch noch ein Auge für die Tierwelt habe, fällt mir auf, dass hier zahlreiche Vogelarten in den Bäumen sitzen.
Nach einer Weile geht es bergab und wir fahren in Schlangenlinien auf einer Touristenroute durch das Tal und durch einige der kleinen Siedlungen. Überall sind Reisfelder und gelegentlich sehe ich Wasserbüffel oder an Reiher erinnernde große Vögel. Alles erscheint mir wunderbar – bis auf das Wetter. Aber sogar der leichte Regen und der kühle Fahrtwind haben etwas Gutes: Wäre das Wetter besser, würde ich mich ärgern, dass ich nicht mehr Zeit für das wunderbare Wanfenglin habe. Und so geht es am späten Nachmittag wieder zurück nach Xingyi.
Abreise: Wie man sich den Abschied leicht machen kann
Die Stadt Xingyi besitzt einen Flughafen, doch noch sind die angebotenen Verbindungen recht überschaubar und so muss ich noch einmal durch die halbe Provinz nach Guiyang zum dortigen Airport fahren. Nachdem sich der Morgennebel aufgelöst hat, sehe ich das erste Mal in Guizhou strahlend blauen Himmel und so genieße ich während der Fahrt über die gut ausgebaute Autobahn die vorbeiziehende Landschaft. Ich staune unterwegs schon gar nicht mehr über die beeindruckenden Brücken und unzähligen Straßentunnel, die das Markenzeichen des hiesigen Straßennetzes zu sein scheinen.
Dank dieses gut ausgebauten Verkehrsnetzes und fast leerer Autobahnen komme ich sehr zeitig in Guiyang an. Es gilt also, noch Zeit bis zum Abflug sinnvoll zu verbringen. Auf den Vorschlag, den Vogel- und Blumenmarkt in Guiyang zu besuchen, gehe ich also gerne ein. Der Markt selbst ist durchaus sehenswert. In den engen Gassen wird vieles angeboten, von dessen Nutzen ich keinen Schimmer habe. Anderes ist eindeutig: moderne Aquarien, Fische zum Füllen der Aquarien, Tiernahrung, Tee, Vögel, Haushaltswaren, medizinische Kräuter, Räucherstäbchen… Obwohl Sonntag ist und der Markt daher sehr gut besucht, entsteht kein Gedränge und die Menschen sind allesamt entspannt. Eine wirklich gute Idee, sich die übrige Zeit in Guizhou hier zu vertreiben.
Eine wirklich gute Idee, um sich den Abschied aus der Provinz leicht zu machen, ist hingegen, sich in das Verkehrschaos der Stadt zu stürzen. Sich durch die Masse aus Bussen, Lieferwagen, PKW und Mofas zu schieben, lässt mich jedenfalls erleichtert aufatmen, als wir beim stadtnahen Flughafen ankommen. Aber auch die letzten Meter in Guizhou werden wieder angenehm, da sich der Flughafen als einer der angenehmsten entpuppt, auf denen ich je gewesen bin. Großzügig, modern, hell, supersauber (inklusive der Toiletten!), gut ausgeschildert, große Restaurantauswahl, mit kurzen Wegen und einer zügigen Sicherheitskontrolle. Eine schöne Visitenkarte für eine fantastische Provinz, die in Europa völlig zu unrecht fast unbekannt ist.
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