Nachdem ich ja gemäß meines Grundsatzes im ersten Reisebericht auf meiner großen Chinatour auch mit "Einheimischen" in Kontakt kommen will, die "den Chinesen an sich" studieren will, kommt mir die für den letzten Tag in Guangxi geplante Bootstour auf dem Li-Fluss gerade recht. Meine Freundin und ich haben diese Tour im Vorfeld bei unserem Hostel gebucht (fast jede Unterkunft in Guilin bietet eine solche an) und uns bewusst nicht für das für Westler durchaus noch günstige Fünf-Sterne-"Luxus"boot entschieden, sondern für das Drei-Sterne-Mittelklassemodell um, wie wir hoffen, den Durchschnittschinesen beim Reisen zu erleben.
Und keine Sorge, ich weiß, auf was ich mich da einlasse - schließlich habe ich vor nicht allzu langer Zeit Christoph Rehages amüsanten Reisebericht "Neuschweinstein - Mit zwölf Chinesen durch Europa" gelesen. Der Titel wäre in unserem Fall ein wenig abzuändern: "Mit 100 Chinesen an Bord eines Ausflugsdampfers", doch die Parameter bleiben dieselben: Gedränge, Reiseleiter mit Megaphonen, die einem leidenschaftslos die Sehenswürdigkeiten herunterbeten, und viiieeele Selfie-Sticks.
Nur einige Details hätte ich so nicht erwartet: Der Pier, an dem die Boote andocken, sieht aus wie ein kleiner Flughafen, mit riesiger Wartehalle davor, Sicherheitskontrolle und Ticketschalter. "Aber wie willst du das sonst alles für ein so großes Volk organisieren", da ist er wieder, der Satz, der mir in den letzten paar Tagen andauernd durch den Kopf geistert - manchmal mit respektvollem, manchmal mit tröstendem und beruhigendem Unterton. Als wir die Ticketkontrolle passiert haben und tatsächlich auf dem Pier stehen, verwandelt sich die Reiseleiterin plötzlich vom sanften Lamm zur autoritären Furie und scheucht alle Reiseteilnehmer zu den richtigen Booten. Wir sagen der Münchnerin, die wir gerade zufällig kennengelernt haben, Auf Wiedersehen und hetzen in die entgegengesetzte Richtung zu unserem zweistöckigen Minidampfer (sie hat wohl die 5-Sterne-Variante gebucht, tja).
Ich bekomme einen Sitzplatz direkt vor dem riesigen Bildschirm. Der zeigt Ansichten vom Li-Fluss zeigt und soll den Fahrgästen schon mal den Mund wässrig machen. Kurz nach dem Start tritt eine andere Reiseleiterin (wie viele davon gibt es eigentlich in China?) vor den Flatscreen und hält einen Vortrag. Der soll informieren wie und an welchen Stellen die Passagiere nachher ihre geliebten Selfies machen können. Mir fallen dabei fast die Augen aus dem Kopf. Sie hat sogar Anschauungsmaterial dabei. Ein kleines Heft mit Bildchen von Reisenden, die vor der Bergkulisse an der Reling stehen und monoton in die Kamera grinsen. "Sie können natürlich auch von ihrer ganzen Familie ein Selfie machen lassen" ... ach echt, ich dachte, dann explodiert der Fotoapparat. Fehlt nur noch, dass sie selbst das Selfiemachen übernimmt für diejenigen, die gar nicht wissen, was eine Kamera überhaupt ist.
Und wie auf Knopfdruck zieht die Reiseleiterin tatsächlich ein Bündel Zettel aus der Tasche. Auf denen können sich diejenigen eintragen, die ein "professionelles" Selfie haben wollen. Der Mann mir gegenüber bekundet bereits sein Interesse, indem er der Reiseleiterin seine hochgehobene Hand fast direkt unter die Nase hält. Aber auch hinter mir schießen bereits unzählige Hände in die Höhe. Ich rümpfe innerlich ein wenig die Nase, tröste mich aber damit, dass Selfies auch ein wenig mit der chinesischen Tradition zu tun haben. Schließlich gilt es in der chinesischen Malerei als Ideal, Wasser, Berg, Himmel und Mensch auf einem Bild zu kombinieren. "Tian Ren He Yi" auf Chinesisch - die Synthese von Natur und Mensch.
Kurze Zeit nach dem Aufbruch rät uns die Reiseleiterin, hinauf aufs Deck zu gehen. In wenigen Minuten käme das erste bedeutende Landschaftspanorama (und die erste Gelegenheit für Selfies) in Sicht. Wie auf Kommando springen die Reiseteilnehmer auf und drängen sich die Leiter hinauf zum Deck. Als meine Freundin und ich oben ankommen, ist das ganze Deck bereits von schnatternden Chinesen besetzt. Sie halten Handys und Kameras vor ihre Gesichter und teilen erste Bilder auf WeChat.
Mit meiner großen Nikon-Kamera, deren gewichtiges Objektiv ich nicht auf meine eigene Nase, sondern auf das beeindruckende Bergpanorama richte, komme ich mir da ganz antiquiert vor. Vielleicht sollte ich mit meinem Objektiv zur Abwechslung auch mal auf Gesichter zielen, denke ich, muss ja wohl unglaublich Spaß machen, und nehme mir ein junges chinesisches Pärchen vor, das lässig an der Reeling lehnt. Wow, das Bild ist gar nicht schlecht geworden! Tian Ren He Yi - vielleicht ist da ja doch was dran.
Von mir macht jedoch dieses Mal ausnahmsweise keiner ein Foto. Neben dieser spektakulären Karstlandschaft verblassen eben selbst die paar exotischen Ausländer, die sich trauen, mit 100 Chinesen eine Bootsfahrt mitzumachen.
Nach ein paar Minuten werden wir schließlich nach unten gebeten - es ist bereits Mittagessenszeit. Das Essen kommt in Aluschalen, wie man sie vom Take-Away-Service beim heimischen Chinesen kennt, nur dass der Inhalt deutlich besser schmeckt als im China-Restaurant um die Ecke. Zartes Lammfleisch, scharfe Fleischbällchen und gewürzter Mais - da lange ich kräftig zu. Nachdem alle satt gegessen sind, beginnt der Kaffeefahrt-Teil der Bootsfahrt, der wohl auch zu einem Standardausflug in China gehört. Die Reiseleiterin wedelt vorne mit Fächern herum und versprüht dubiose Parfums in die Luft. Der dicke Junge mir gegenüber rümpft die Nase und murmelt etwas wie "Stinkt ja zum Himmel". Am Ende sind es aber nicht die beiden begeisterten Mädchen neben uns, die etwas kaufen, sondern der dicke Junge. Und zwar einen knallgelben Fächer, mit dem er sich den Rest der Fahrt kokett Luft zufächelt.
Auf nach Yangshuo
Unser Ausflugsziel ist Yangshuo, eine kleine, malerische Stadt am Ufer des Li. Leider hat sie durch den überhand nehmenden Tourismus etwas von ihrem Charme verloren. Dennoch kommen mir auch hier wieder einige "chinesische Originale" vor die Linse. Zum Beispiel ein kleiner Junge, der von seiner Mutter offensichtlich rekrutiert wurde, Werbung für die chinesische Volksbefreiungsarmee zu machen.
Yangshuo hat außer der Uferpromenade an Sehenswürdigkeiten leider nicht so viel zu bieten. Es gibt jedoch hier ein paar wunderbare Stände und Läden für feine Textilprodukte aus Seide und Satin. Leider sind wir hier auch nicht mehr so unsichtbar wie auf dem Boot. Als wir über den Marktplatz schlendern, rennen plötzlich all die Chinesen, die uns an diesem Tag nicht fotografiert haben, geballt in einer etwas dicklichen, ganz in weiß gekleideten Person auf uns zu.
"Kommt, kommt", schreit die Frau und drückt uns an sich - mich links, meine Freundin rechts. Für das zweite Foto drängt sie meine Freundin beinahe weg, dreht mich zu sich und umschließt meine Taille mit ihren beiden dicken Armen. Ich versuche, höflich zu bleiben, und lege meine Hände ebenfalls vorsichtig auf den vollkommen durchnässten Stoff ihres weißen Kapuzenshirts. Als es vorbei ist, fühlen wir uns wie kleine Kinder, die gerade von einer vollkommen durchgeknallten Mickey Mouse im Disneyland angefallen wurden. "Oder sind wir die Mickey-Mäuse?", denke ich laut. Schwer zu sagen. Auf jeden Fall haben wir für heute genug von Selfies.