Im Nordwesten Chinas leben heute etwa 35 Millionen Menschen in Höhlen. Dies hat nichts mit Rückständigkeit zu tun – es gehört zur chinesischen Tradition. Die traditionelle Yaodong 窑洞 („Höhlenwohnung“ oder „Wohnhöhle“) gehört zur charakteristischen Wohnarchitektur der Lössplateaus der Provinzen in Chinas Nordwesten.
Die chinesischen Lössplateaus sind durch Sedimente entstanden, die sich durch den Wind über Jahrtausende in Erdhügeln abgelagert haben. Nirgendwo auf der Welt hat sich mehr Löss abgelagert, als in China. In den Bergregionen im Norden Chinas erreichen die gelben Lösschichten eine Höhe von bis zu 400 Metern. Schon seit frühester Zeit fand Löss für chinesische Bauwerke Verwendung. Bereits die Stadtmauer der alten Hauptstadt Chang'an 长安 (heute Xi´an 西安) wurde im Jahr 582 aus gestampftem Löss errichtet.
Die drei Höhlentypen
Die Tradition, Höhlen in Lössplateaus hinein zu graben, lässt sich bis in Chinas Bronzezeit zurückverfolgen. Man unterscheidet heute zwischen drei unterschiedlichen Arten von Höhlenwohnungen. Die Berghang Höhle 靠崖窑, die Freistehende Höhle 箍窑 und die Versunkene Höhle 地坑窑. Die Berghang Höhle, auch Felsenhöhle genannt, ist die am meisten verbreitete Höhlenart. Sie wird aus einem Berghang gehauen und hat in der Regel einen rechtwinkligen Boden und ein gewölbtes Dach. Meist ist die Felsenhöhle nach Süden hin ausgerichtet. Die Freistehende Höhle ist eine meist gewölbte Höhlenwohnung in freistehender Bauweise. Die Versunkene Höhle wird auch als Versunkener Hof 地坑院 bezeichnet. Sie wird horizontal aus einem sechs bis sieben Meter tief in die Erde eingelassenem Hof ausgegraben. Hauptmerkmal aller Höhlen ist, dass sie von oben mit Erde bedeckt sind.
Verbreitung der Yaodong
Wohnhöhlen sind im Nordwesten Chinas sehr weit verbreitet. Vor allem in den Provinzen Shaanxi 陝西, Shanxi 山西, Gansu 甘肃 und Henan 河南 sowie in Teilen von Ningxia 宁夏 und Xinjiang 新疆 findet man heute noch sehr viele Yaodong-Konstruktionen. Besonders die Wohnhöhlen in der Region Yan´an 延安 im Norden von Shaanxi sind sehr berühmt und historisch von großer Bedeutsamkeit. Grund dafür ist, dass der „Große Vorsitzende“ Mao Zedong während des „Langen Marschs“ sein neues Hauptquartier dort errichtete. Im Kreis Wubao der Provinz Shaanxi haben Archäologen im Jahr 2004 zudem Überreste von über 70 Wohnhöhlen aus dem Neolithikum ergraben. Ein Beweis für die über 4000-jährige Geschichte dieser ungewöhnlichen Wohnarchitektur.
Der Wohnhof als Abbild des Kosmos
Auch die bezirksfreie Stadt Sanmenxia 三门峡 („Schlucht der drei Tore“) in der Provinz Henan 河南 ist bekannt für ihre gut erhaltenen Wohnhöhlen. Sanmenxia befindet sich südlich des Huang He 黄河 („Gelber Fluss“). Der Name bezieht sich auf zwei Inseln, die den Gelben Fluss in drei Teile teilen. Hier befinden sich heute noch etwa 10.000 Wohnhöhlen. Insbesondere der Typ des Versunkenen Hofes ist hier sehr häufig anzutreffen. Dieser wird auch als unterirdischer chinesischer Wohnhof 四合院 (Siheyuan) bezeichnet. Er ist an allen vier Seiten von Wohnräumen umgeben. Wörtlich übersetzt bedeutet Siheyuan „ein von vier Seiten umschlossener Hof“. Oberirdische Wohnhöfe sind in ganz China verbreitet. Im Grundmuster sind sie sogar schon aus der Kaiserzeit bekannt. Unterirdische Wohnhöfe hingegen sind nicht so weit verbreitet und selbst für einige Chinesen eine Attraktion.
Jeder Wohnhof verfügt über etwa drei bis fünf Wohnhöhlen. Häufig bewohnt eine einzelne chinesische Familie einen ganzen Wohnhof. Die Standard Höhlen der unterirdischen Wohnhöfe haben eine Tiefe von etwa sieben bis acht Metern und sind drei Meter hoch und drei Meter breit. Die Eingänge und Fenster zu den einzelnen Wohnhöhlen sind in Form von Bogenkonstruktionen gestaltet. Diese lassen viel Licht ins Innere der Wohnräume und werden häufig bepflanzt. Sie haben in der chinesischen Philosophie allerdings auch eine symbolische Bedeutung. Die runde Form der Bögen steht für den Himmel und die quadratische Form des Hofes für die Erde. Somit stellt der gesamte Wohnkomplex ein Abbild des Kosmos dar.
In Eingängen und Fenstern sind meist traditionelle chinesische Holzgitter verarbeitet, die zum Schutz vor Wind mit Papier bespannt werden. Viele der Yaodongs sind mit einem chinesischen Ofenbett – einem sogenannten Kang 炕 aus Stein ausgestattet. Im Winter wird dieser von unten beheizt und im Sommer ist es auf dem Kang angenehm kühl. Die Ofenbetten sind in ganz Nordchina weit verbreitet und bieten Platz für mehrere Personen.
Die Vorteile einer Wohnhöhle
Während die Wohnhöhlen früher in die Lössschichten hinein gegraben wurden, leistet sich die wohlhabendere Bevölkerung heute auch Wohnhöhlen aus Zement und Stein. Die Höhlenwohnungen sind durch die umgebende Erde sehr gut isoliert. Sie halten den Wohnraum im Winter warm und im Sommer kühl. So brauchen die Bewohner im Winter nicht viel zu heizen und können im Sommer auf eine Art natürliche Klimaanlage zurückgreifen. Auch vor Lärm, Wind und Erbeben sind die Bewohner unter der Erde gut geschützt. Ein weiterer Vorteil der feuerfesten, unterirdischen Wohnhöhlen besteht darin, dass mehr freie Fläche für den Ackerbau zur Verfügung steht. Der Lössboden gilt als besonders nährstoffreich und geeignet für die Landwirtschaft.
Die Mehrheit der Höhlenbewohner waren früher Bauern und sind es zum Teil auch heute noch. Während des größten Teils seiner Geschichte war die ländliche Bevölkerung in China arm und konnte kaum für ihre eigene Ernährung aufkommen. So stand die Unterkunft im Hinblick auf das Überleben erst an zweiter Stelle. Die Höhlenwohnungen waren einfacher und wirtschaftlicher zu bauen als oberirdische Gebäude und weitestgehend ohne Kostenaufwand. Sie boten außerdem zu Zeiten von Kriegen und Konflikten einen Ort der Sicherheit. Dies sind Faktoren, die zur Herausbildung des Yaodong Lifestyles beitrugen und die Yaodong zu einem beliebten architektonischen Baustil in Chinas Nordwesten erhoben.