Nach einer Woche in Chengdu, einer der größten Städte des Landes, vermisste ich Natur und etwas Ruhe. Dinge, die in großen Städten oftmals Mangelware sind. Ich bin für Recherche meiner Masterarbeit in die Stadt gekommen und eine Kollegin an der Uni hat mir von der Entwicklung des ländlichen Tourismus berichtet, der in Sichuan begonnen hat und chinaweit viele Menschen seitdem begeistert. Durch die Industrialisierung und Urbanisierung des Landes sind immer mehr Menschen in den riesigen Industriemetropolen aufgewachsen und sehen die Dörfer ihrer Großeltern, wenn überhaupt, nur noch einmal im Jahr zum chinesischen Neujahrsfest.
Außerhalb von Chengdu überragt das Land
Lange Arbeits- und Schultage hindern viele Familien daran Ausflüge ins Umland zu machen. Und wenn die Menschen hier einmal Urlaub bekommen, dann zieht es die meisten für lange Zeit nach Shanghai oder Hongkong, um deren 'Moderne' zu bewundern. Die Dörfer oder Kleinstädte jedoch, aus denen viele der jetzigen Stadtbewohner stammen, standen für gewöhnlich für Armut, Rückstand und für Orte, denen man so schnell wie möglich entfliehen sollte. Doch genau an dieser Ansicht ändert sich so langsam etwas. Vielen Menschen in den Städten fehlt die Natur, sie haben mehr Freizeit, höhere Einkommen und Wochenendausflüge mit der Familie werden beliebter. Zur gleichen Zeit versuchen viele lokale Regierungen die ländliche Wirtschaft zu entwickeln, und Tourismus bietet sich dabei perfekt an. Also machte Ich mich auf den Weg!
Ein Auflug in die umliegenden Dörfer
Die neue U-Bahn der Stadt fährt ziemlich weit hinaus bis ins nähere Umland in einen kleinen Vorort. Dabei muss man klar stellen, dass chinesische Größenverhältnisse nicht unbedingt mit denen in Deutschland übereinstimmen. Diese kleine Stadt hat technisch gesehen eine Bevölkerung vergleichbar mit Hannover. Wenn man jedoch durch die Straßen läuft, merkt man direkt einen großen Unterschied zum Zentrum der Metropole Chengdu. Weder glitzernden Einkaufszentren, Wolkenkratzer, noch Luxusgeschäfte. In einer Seitengasse besorge ich mir erst einmal Frühstück, ein Straßenhändler bietet 油条Youtiao zum Verkauf an. Der ältere Mann lächelt über mein Hochchinesich, was in vielen Regionen von wenigen älteren Menschen verstanden wird. Ich glaube er fragt, ob Ich in Beijing lebe, aber er versteht leider meine Antwort nicht.
Nach dem Frühstück suche ich nach einem Bus, der in umliegende Dörfer fährt. Noch wirkt erstmal nichts nach Tourismus, erst recht nicht auf Englisch. Nachdem ich einen Polizisten nach dem Weg gefragt hatte, fand ich einen Bus, der in ein paar Dörfer in den Bergen fährt. Fahrscheine gibt es nicht. Das Geld wird einfach in eine Box geworfen und der Fahrer lächelt kurz, bevor er zügig durch die Straßen düst. Noch wirkt alles recht geordnet. Neue Straßen führen schnell durch den Morgenverkehr. Aber schon nach zehn Minuten werden die Häuser kleiner, der Verkehr lockerer und die Schlaglöcher häufiger. Die ersten Felder tauchen auf und am Horizont steigen mittelgroße Berge empor. Trotz der ruckeligen Fahrt fühle ich mich schon vom Großstadttrubel entspannt. Die restlichen Insassen sind vor allem ältere Frauen, die Sonnenblumenkerne kauen und sich angeregt unterhalten.
Ein interessanter Einblick in ein anderes China
Die Dörfer in denen der Bus hält wirken nicht wie viele der anderen überlaufenden Touristenstädte. Einzelne Besucher spazieren durch die gefegten Gassen und bewundern die pastorale Atmosphäre. Sie essen im örtlichen Familienbistro und pflücken mit alteingesessenen Frauen Erdbeeren, als hätten sie noch nie im Leben eine Pflanze in Natur gesehen. Ich muss gestehen, es hatte schon etwas Amüsantes an sich. Doch auch wenn diese Dörfer für Touristen herausgeputzt wurden und der landwirtschaftliche Alltag hier sicher nicht der Realität Chinesischer Bauernhöfe entspricht, ist es ein interessanter Einblick in ein anderes China. Auf der einen Seite konnte ich schöne Berge und Täler bewundern, Ruhe genießen und lokale Köstlichkeiten probieren. Auf der anderen Seite lernte ich darüber, was chinesische Touristen interessant finden und wie sie ihr eigenes Land betrachten.
Impressionen des Landlebens in China
Außerhalb des Dorfes folge ich der Landstraße. Noch ist es früher Nachmittag und die Sonne steht hoch über den Bergen. An solch abgelegenen Straßen bekommt man ganz schöne Blicke, denn Ausländer sind die einheimischen Dorfbewohner nicht gewohnt.
Viele ehemalige Bauernhöfe wurden zu 'Nong Le Jia' 农乐家 ausgebaut, ländlichen Pensionen für Besucher. Oftmals bieten Sie einen wunderbaren Ausblick über Täler und für Kinder auch die Gelegenheit, die süßen Tiere zu streicheln.
Nach ein paar Wendungen führt die Straße einen Hügel hinauf zu einem alten buddhistischen Tempel, mit goldverzierten Dächern, einem großen Paifang 牌坊 (Tor) und Drachenfiguren auf der Mauer. Der Anblick beeindruckt und ich spaziere durch die begrünten Höfe zwischen den Tempelräumen. Nach einer Weile kommt ein Mönch auf mich zu und lädt mich zum Essen ein.
Nach dieser tollen Erfahrung laufe ich die Straße weiter, sinniere ein wenig über das Leben und suche nach der nächsten Haltestelle – ohne Erfolg. Zum Schluss beschließe ich mich per Anhalter zurückzukommen und habe nach einer Weile sogar Glück: Ein junges Touristenpärchen nimmt mich bis in den Hauptort mit, von wo aus der Bus mich zurück zur U-Bahn bringt. Zurück in Chengdu erschlägt mich der Kontrast zur Großstadt fast. Menschen über Menschen und riesengroße Türme. Es wirkt fast als hätte ich den Tag in einem anderen Land verbracht.
Eindrücke der Umgebung:
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