Die spannendste Art, die Millionen-Metropole Peking mit ihren Gerüchen, Geräuschen und Gegensätzen zu erkunden, ist per Fahrrad – aktiv Radfahren-Autorin Claudia Rammin machte den Selbstversuch.
Fahrrad fahren in Peking? Abenteuerlich! Gefährlich! Das fühlt sich an, als würde mir vorgeschlagen, durch die Kanäle von Amsterdam zu schwimmen oder auf einem mittelamerikanischen Highway spazieren zu gehen. Mir als Asphalt-Cowboy tollkühn einen Weg zu bahnen zwischen Millionen drängelnden Autos, Tausenden Bussen und Taxis, die wie Krebse abrupt die Spuren wechseln und Horden ungebändigter Fahrradfahrer und Fußgänger. Ich Großnase wage es dennoch, miete während meines mehrtägigen Aufenthalts in Chinas Metropole ein schwarzes schnörkelloses Eingang-Rad, Marke Giant, und schwinge mich in den Sattel. Mein Ziel: die Gigantomie der nach-olympischen Stadt zu erfahren und einzutauchen in ihre Seele. Und das, ohne im Stau zu stehen.
Neun Millionen Fahrräder
Peking hat 17 oder 19 Millionen Einwohner – wer weiß das schon so genau, wohl nicht einmal die Partei. Aber Peking hat garantiert neun Millionen Fahrräder, wie die britische Sängerin Katie Melua weiß und wunderbar singt: „There are nine million bicycles in Beijing, that‘s a fact, like the fact that I will love you till I die.“ Wie meine Millionen Mitfahrer radle ich ohne Helm und ohne Licht los, dafür mit mulmigem Magen. Eine Lampe ist nicht vorgeschrieben, wie mir Herr Li von der Verleihstation nahe der Verbotenen Stadt versichert – und Helme tragen hier nur Militärpolizisten (weiße) und Bauarbeiter (gelbe und rote). Ich wäre mir mit Kopfschutz so vorgekommen, als säße ich mit Schwimmweste im Kinderbecken einer Badeanstalt.
Die ersten Kilometer fühle ich mich – seit frühesten Pfadfindertagen geübte Kartenleserin – wie ein funktionaler Analphabet, der Stadtplan und Straßenschild Buchstabe um Buchstabe miteinander vergleichen muss. Dank der Olympischen Spiele sind mittlerweile selbst kleine Nebenstraßen in Englisch angeschrieben. Aber wer kann schon auf Anhieb Namen wie Chaoyangmen Beixiaojie nicht verwechseln mit Chaoyangmen Nanxiaojie oder Chayoangmenwai Dajie. Doch bald habe ich heraus, dass Peking wie Manhattan funktioniert und wie geschaffen ist fürs Velo-Flanieren: Die Straßen sind schnurgerade und rasterförmig angelegt wie ein Schachbrett. Das erleichtert die Orientierung selbst für ungeübte Zweiradtreter. Peking ist topfeben und hat im Gegensatz zu New York viel Platz, teilweise autospurbreite Radstreifen. Aber Pekings Luft ist mitunter so atemberaubend stickig wie die aus einem Fahrradschlauch. An manchen Tagen ist alles in einem Novembernebel hellgrau verschwommen, was weiter als hundert Meter entfernt ist. Keiner weiß so genau, ob die Kessellage daran schuld ist, der Autoverkehr oder der Feinstaub aus den Stadtrandfabriken.
Wie wohl die Olympioniken in diesem Smogtreibhaus Höchstleistungen vollbrachten? Damals war immerhin die Hälfte des Privatverkehrs und der Beamtenfahrzeuge nahezu stillgelegt, Schwertransporte in der Stadt verboten. Heute werden täglich 1 500 Autos neu zugelassen, bereits 3,3 Millionen Fahrzeuge bevölkern Pekings Straßen – Tendenz steigend. Und irgendwann werden Radfahrer die letzten Helden des Landes sein, wie ein bisweilen kursierender Witz besagt.
Beijing – die nördliche Hauptstadt
Heute hängt eine fahle Sonne am blassblauen Himmel über Beijing, übersetzt der „nördlichen Hauptstadt“, die so groß ist wie das Bundesland Thüringen. Ich stehe mit meinem Rad an einer großen Kreuzung am Tian‘anmen-Platz, dem symbolischen Herz Chinas und vor zwanzig Jahren Schauplatz tragischer Ereignisse. Er gleicht einem See, auf dem man treiben darf, ohne aber einen Ort für sich zu beanspruchen – nicht nur dürfen keine Cafés den Platz mit Stühlen und Tischen besetzen, es fehlen auch einfache Sitzbänke. Der Tross setzt sich in Bewegung. Es quietscht, rattert und scheppert – eine Kakophonie ungeölter rostiger Ketten und Klingeln. Auf schweren Stahl-Fahrrädern mit Gestängebremsen, modernen Leichträdern und Hightech-Mountainbikes schieben sich die Pedalritter neben Lasten-Rikschas über den Boulevard des Ewigen Friedens, der wichtigen 40 Kilometer langen Ost-West-Achse Pekings. Nirgends haben Radfahrer mehr Platz als im Machtzentrum des Riesenreiches, hier auf der Dongchang’an Jie, der Paradestraße von Land und Partei. Zweimal fünf Spuren gehören dem Autoverkehr, daneben eine abgesperrte mehrere Meter breite Spur nur für Radfahrer.
Bloß nicht ausscheren!
Generell gilt beim Radeln in Peking die oberste Regel: Es gibt keine Regel. Rechts kommt nicht unbedingt vor links, eine rote Ampel wird grundsätzlich grün gesehen, ein Stoppschild und andere Tafeln sind nicht mehr als eine Empfehlung. Die Polizei ist kümmert es nicht. Am besten, jegliche europäische Disziplin vergessen und mitmachen, was die Chinesen machen: Bloß nicht ausscheren! Autos haben nur dann Respekt vor Radlern, wenn diese geballt in Horden zu ebenbürtigen Straßenrittern mutieren. Ich versuche, mich organisch in den Pulsschlag der Stadt einzufügen, gondele unauffällig in der Masse, deren Mitte größte Sicherheit gibt. Das vermeintliche Chaos ist niemals hektisch, selten aggressiv, das Tempo ohnehin verhalten. Etwaige Raser sind garantiert Westler. Im angenehmfrischen Fahrtwind überhole ich verschwitzte Touristen, die ihre Absätze schief und ihre Füße pflastermüde laufen, sich in Hunderte Meter langen Schlangen zäh durchs Tor des Himmlischen Friedens wälzen, dem Zugang zur Verbotenen Stadt. Darüber prangt unverdrossen noch immer das riesige Porträt des ewig frisch gebliebenen Gesichts des Großen Vorsitzenden Mao. Er blickt von dort auf das eigene, täglich von Millionen Menschen kostenfrei besuchte Mausoleum hinüber, in dem er als balsamiertes Original wächsern-weiß vor sich hinleuchtet. Ausscheren aus der radelnden Menge klappt erst, als ich mich in das verwinkelte Gewirr der engen Wohngassen verirre, in die fast autofreien Hutongs – mongolischer Ausdruck für Brunnen. In jene letzten verbliebenen Altstadtviertel aus der Kaiserzeit, die noch nicht zugunsten des radikal modernen Chinas geschleift worden sind. Einem Land, das sich nicht nur mit seinen futuristischen architektonischen Mega-Inszenierungen beinahe über Nacht neu zu erfinden versucht – als fortschrittlich und offen.
3 000 Hutongs in Peking
Das Reich der tausend Hofhäuser (Siheyuan) rund um den Qianhai-See nördlich der Verbotenen Stadt duckt sich unter dem mächtigen Glocken und Trommelturm. Schlagartig erstirbt der Straßenlärm. Überirdische Leitungen spannen sich wie Spinnennetze über die schmalen Hutongs mit ihren Gemeinschaftstoiletten und noch funktionierenden Brunnen. Hier wird gekocht, gegessen, die Wäsche getrocknet. Es werden Köpfe geschoren und Scheren geschleift. Ältere Männer im Mao-Drill sitzen beim Brettspiel. Marktfrauen verkaufen statt Coca- Cola die alte Jianlibao-Brause, ein selten gewordenes Soft-Drink-Relikt aus vorglobalen Zeiten. Aus kleinen Garküchen wabern verlockend-würzige Gerüche. Ich kann nicht widerstehen, halte an und erstehe mit Fingerzeigen eine dampfende, handtellergroße Baozi. Die beliebte chinesische Variante des Big Macs wird an fast jeder Straßenecke verkauft, mit Gemüse, Fisch oder Fleisch gefüllt und von den Chinesen morgens, mittags, abends und zwischendurch verzehrt. In eisessig getunkt und mit frischem Ingwer bestreut, ist die Teigtasche für meinen europäischen Gaumen ein Schlemmermahl.
Zwischen grauen Steinmauern und roten Holzsäulen ragen Zypressen und Pappeln, die die Pekinger den „heimlichen Wald“ nennen – eine ländliche Oase im Großstadtdschungel, eine andere Welt, durch die ich wie eine Zeitmaschine rolle. Rund 3 000 Hutongs soll es derzeit noch geben, in denen 3,5 Millionen Menschen ein einfaches Leben leben, in denen sich ber auch ein Wandel vollzieht. Spätestens seit Olympia gibt es vielerorts eine Kanalisation und statt mit Kohle wird mit Strom geheizt. Viele Künstler und Architekten haben die Hutongs als trendige Domizile entdeckt und Hofhäuser mit enormem Aufwand renoviert. Neben einem Hinterhof voller Gerümpel hat sich eine schicke Bar einquartiert, ein luxuriöses Boutique-Hotel bietet modernes Schlafen im traditionellen Umfeld.
Chinesische Höflichkeit & Tsingtao-Bier
Irgendwann habe ich die Orientierung verloren in diesem Gassengewimmel. Ich drücke meinen Stadtplan einem Chinesen in die Hand – versehentlich umgedreht. Er merkt es aber nicht und schlägt wortreich gestikulierend einen Weg vor, irgendeinen. So was gebietet eben die chinesische Höflichkeit. Wagemutig fahre ich einfach geradeaus und bin froh, die nächste größere Straße endlich wieder auf Englisch entziffern zu können. Mir tun die Waden weh. Überglücklich finde ich den Weg zurück in den sicheren Schoß der radelnden Masse. Vor mir taucht das blinkende Schild einer Bar auf. Jetzt ein Tsingtao- Bier, der passende Absacker nach meinem Rad-Abenteuer durch die Megalopolis Peking.
Von Claudia Rammin (Aktiv Radfahren 1-2/10, S.170-173)