Zwei Zugstunden von Peking liegt das Paradies – jedenfalls laut Reiseführer. Neugierig auf das „Paradies auf Erden“, kämpfen meine Mitbewohnerin und ich tapfer gegen den Schlaf und nehmen den Frühzug gen Südwesten. Unser Ziel ist der Geopark Yesanpo in der Provinz Hebei. Denn genau dort soll unser Paradies liegen: die Bailixia-Schlucht (chin.百里峡).
Gemächlich schnaufend tuckert der Zug durch Pekings Stadtviertel Shijingshan, Fengtai und Fangshan gen Südwesten. Eine halbe Stunde vor der Endstation verwandelt sich unser Abteil in eine fahrende Markthalle. Die Einwohner von Yesanpo und Bailixia schwenken Visitenkarten und bieten den Reisenden günstige Übernachtungsmöglichkeiten in ihren Häusern an. Ausgestattet mit einem Blumenstrauß Visitenkarten steigen wir aus und folgen dem Labyrinth enger Gassen und dicht gedrängter Häuser hinunter zur Straße nach Bailixia. Es bleiben knapp zwei Kilometer Fußweg durch ausgestorbene Restaurantlandschaften und eine staubige Bauwüste.
Bereits wenige Meter nach dem Eingang zur Schlucht wird der Pfad enger, die Abschnitte steiler. Immer entlang des Flusses folgen wir den hoch aufragenden Felsen und bewundern die reiche Vegetation. Die erste Station ist das Tal der Skorpione, dessen Einwohner heute glücklicherweise nicht zu Hause sind. Die Bäume und Büsche krallen sich an steil abfallendes Geröll und geben nur teilweise den Blick auf kargen Fels frei. An manchen Stellen bricht sich das Sonnenlicht auf so merkwürdige Weise, dass subtile Muster entstehen. Die Besucher erwartet ein imposantes Spiel aus Sonne und Schatten, dazu Wasser in Farbstufen von dunkelblau bis grasgrün.
Über steile Treppen geht es weiter, immer entlang des Flusses. An einigen Stellen plätschern Bergquellen, an anderen kann man seltene Pflanzen bestaunen. Wir erreichen die „Zickzack-Schlucht". Hier können Sie den Himmel nicht sehen, warnt das Schild am Eingang und es sieht wirklich so aus, als liefe der immer schmaler werdende Pfad ins Nichts. Die Felsen ragen beinahe senkrecht hinauf und sind so übereinander gestapelt, dass vom Himmel nur ein sehr weit entfernter blassblauer Streifen zu erhaschen ist.
Der Weg gabelt sich. Möglichkeit eins ist die lang gewundenen Treppenstufen in Richtung Gipfel. Angesichts der Mittagshitze scheint Möglichkeit zwei da gleich viel verlockender: Wir nehmen die wenigen Stufen hinauf zur kleinen Seilbahnstation. Außer uns scheint heute niemand Seilbahn fahren zu wollen, trotz der Hitze entscheiden sich viele für den Aufstieg per pedes. Wir denken uns nichts dabei und ein letzter Blick auf die steilen, nicht enden wollenden Treppenstufen löscht auch den letzten Zweifel aus. Was man von unten nicht erahnt, die Seilbahnfahrt hat es in sich. Es braucht nur ein paar Meter, bis wir begreifen, warum die meisten die Stufen bevorzugen. In halb-offenen Gondeln geht es Angst einflößend langsam mit viel Geschaukel und beinahe senkrecht nach oben. Die Stille, die hier herrscht, wird nur ab und zu von den Schreckensrufen der Fahrgäste in uns entgegenkommenden Gondeln durchdrungen. „Habt ihr auch so viel Angst wie wir?" „Nein!...Mehr!" Und dabei sehen die kleinen 2-Mann-Gondeln in blau, gelb und orange so niedlich aus. Nur gut, dass unten genug Bäume stehen, um die Felsvorsprünge zu kaschieren, andernfalls wäre es wirklich gruselig. Die Minuten nach der Ankunft verbringe ich damit, meiner Begleiterin – die sich ihre erste Seilbahnfahrt etwas romantischer vorgestellt hatte - zu versichern, dass wir wirklich nur das Hinfahrtticket genommen haben und nicht noch einmal einsteigen müssen.
Glücklicherweise kommt uns Mutter Natur zu Hilfe: Der Ausblick vom Gipfel macht die Fehlentscheidung Seilbahn wieder wett. Damit ist unser Abenteuer aber noch nicht beendet. Schließlich müssen wir ja auch wieder nach unten. Schmal und steil winden sich die Holzstufen herab. Wir beginnen bei Stufe 536 und bezweifeln, dass man vom Gipfel aus in nur 536 Holzstufen das Tal erreichen kann. Auf der Hälfte, bei Ziffer „0" dann die Erkenntnis: Ein Blick zurück zeigt, auf den Stufen sind in verblassender roter Farbe einige Daten der chinesischen Geschichte gemalt. Wir sind also nicht bei Stufe 0, sondern im Jahr Null angekommen. Beim Gedanken an die lange Historie Chinas machen wir uns auf einen sehr langen Abstieg gefasst und hoffen insgeheim bald im 21. Jahrhundert anzukommen.
Nachdem wir ein weiteres Stück geschafft haben, hören wir von unten einen erfreuten Ausruf: „Schau mal, wo wir sind. Nur noch 200 Jahre", ruft die Dame mit sehr großer Sonnenbrille entzückt, schnauft kurz durch und zieht sich am Geländer um die Ecke und hinauf zur nächsten Stufe. Wir beschließen, ihr besser nicht zu sagen, dass es „vor Christi Geburt" noch weiter geht und sie noch mehr als das Doppelte vor sich hat. Unten angekommen, zittern immer noch die Knie von der Seilbahnfahrt; die Beine sind immer noch am Treppensteigen. Die Stufen enden im Jahr 481: „Beginn der Chinesischen Geschichtsaufzeichnungen", steht da. Nachdem wir uns noch von der Akustik der „Echo-Höhle" überzeugt haben, geht es mit immer noch wackeligen Beinen in Richtung Ausgang. Wir sind uns einig, der Besuch in Bailixia hat sich gelohnt. Nur das mit dem Seilbahnfahren lassen wir nächstes Mal besser aus.