Herr Ma lässt sich Zeit. Den kahlen Kopf durchs offene Taxi-Fenster gereckt, dreht er die Augen. Dann grinst er, öffnet die grün-weiße Beifahrertür und schon geht es los. Ma Wensheng stammt aus Chengde. Seit über 15 Jahren fährt er Taxi und kennt jeden Winkel seiner Heimatstadt. Seine Arbeitswege sind jedoch etwas einseitig. Nach Herrn Mas gefühlter Eigenstatistik geht jede dritte Fahrt von einem der Busbahnhöfe zur Bi Shu Shan Zhuang, der Sommerresidenz der Qing-Kaiser, zu der auch wir gerade unterwegs sind.
1703 von Kaiser Kangxi (1654-1722) "in Auftrag gegeben", brauchte es fast 90 Jahre - die Regierungszeiten dreier Qing-Herrscher- um den Gebäude-Wald-Park-Komplex fertigzustellen und auf seine heutige Größe zu bringen. Und letztere ist gewaltig, misst sie doch gut das Doppelte des Sommerpalasts in Peking. Die Legende will, dass Kangxi während eines Ausflugs in die Jagdgebiete jenseits der Großen Mauer die Idee kam, eine Sommerresidenz außerhalb der Hauptstadtmauern zu errichten, um dort nicht nur Natur zu genießen, sondern auch die Erinnerung an seine kulturellen Wurzeln zu bewahren. "Die Qing waren nämlich Mandschuren, keine Han-Chinesen", ruft Herr Ma mir zu. "Darum mussten sie sich auch keine Sorgen machen, die Bishu Shanzhuang auf unsicherem Gebiet errichten zu lassen. Es war ja sozusagen ihre Heimat. Jeden Sommer gab es eine gewaltige Prozession von Peking nach Chengde, wenn der Kaiser und sein Gefolge vor der Hitze in der Hauptstadt flüchteten. Denn obwohl Chengde nur rund 200 km von Peking entfernt liegt, ist es hier deutlich kühler", sagt er und kurbelt zur Bestätigung das Fenster weiter hinuter. Dann setzt er an zu einem Schnellkurs in chinesischer Geschichte. Schließlich soll sein weitgereister Fahrgast ja auch wissen, was er da gleich anschauen wird.
So erfahre ich, dass Chengde ursprünglich Jehol hieß, was aus der Sprache der Mandschu stammt und warmer Fluß bedeutet. Da es hier heiße Quellen gab, gefror im Winter das Wasser nicht. Die Chinesen übernahmen diese Bezeichnung und nannten das Gebiet Rehe. Die Qing-Kaiser schätzten hier vor allem die Jagd- und Fischgründe und die regelmäßig stattfindenden Wettkämpfe der kaiserlichen Bogenschützen sind legendär. Die Stadt Chengde entstand später. Wenn man Herrn Mas Erklärung folgt, ist Chengde quasi die Stadt zum heutigen Weltkulturerbe, das während der Regierungszeit von Kaiser Qianlong (1735-1796) seine Blütezeit erlebte. Ab 1820 wurde das Sommerquartier allerdings nicht mehr genutzt. Der Legende nach soll in diesem Jahr Kaiser Jiaqing durch einen Blitzschlag umgekommen sei. Selbstredend, dass sich die nachfolgenden Himmelssöhne bei einem so offensichtlich schlechten Omen in Peking sicherer fühlten.
Während der Zeit, in der China von japanischen Truppen besetzt wurde, war Chengde ein Teil des Marionettenstaates Manchukuo. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt zur Provinz Hebei gerechnet. Heute hat Chengde knapp 460.000 Einwohner und ist besonders im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel für Hauptstädter. Neben der Sommerresidenz lockt vor allem der Putuozongcheng Tempel, den die Einwohner in Chengde liebevoll den "kleinen Potala Palast" nennen, da er dem Original in Lhasa nachempfunden ist.
Besonders zu beachten ist Herrn Ma zufolge die Tafel mit dem Namen Bi Shu Shan Zhuang im Eingangsberich der Sommerresidenz. Findet sich hier doch tatsächlich ein imperialer Schreibfehler. Seine Majestät fügte beim chinesischen Zeichen bi (im Foto erstes Zeichen von rechts) einen Strich zu viel hinzu. Aber Herr Ma kann auch das erklären. "Das ist der Schriftzug des Kaisers. Was er schrieb war schön, richtig und einmalig. Ob es nun schön, richtig und einmalig war oder nicht. Manche sagen, er habe das Zeichen absichtlich falsch geschrieben, um die ursprüngliche Bedeutung abzuschwächen. Bi bedeutet nämlich so viel wie "etwas vermeiden" und der Kaiser wollte natürlich nicht den Eindruck erwecken, er würde bei seinem Auffenthalt in Chengde die Regierungsgeschäfte vernachlässigen".
Zunächst aber geht die Fahrt durchs moderne Chengde, das überraschend sympathisch und gepflegt daher kommt. "Umweltschutz ist der größte Wettbewerbsvorteil", zittiert mein Mitbewohner. Unfähig zu derart viel morgendlicher Weisheit, wenden sich ihm alle Augen zu. Aber er hebt nur die Hand und weist auf das kleine Schild auf der Verkehrsinsel, die wir gerade passieren. Der einzige Makel des sauberen Chengde ist vielleicht die Bundbar, die fälschlicherweise "absolutes Shanghaifeeling" verspricht. Aber was solls. Der Fluss, an dessen Ufer sie steht, ist trotzdem beeindruckend. "Der war früher noch viel breiter", verkündet Herr Ma in den Rückspiegel. Wir machen eine geistige Notiz: Chengde ist reich. Der majestätische Wulie Fluss mit seinen künstlichen Trassen und den fast ein wenig protzigen Deko-Elementen, mit denen er in der Morgensonne um die Wette glitzert, ist der Beweis. Ein wirklich beeindruckender Auftakt.
Das Eingangstor der Sommerresidenz hingegen ist geradezu erschreckend unspektakulär. Ein einsamer Löwe thront am Eingang, die Steintafeln, die den Ort als Weltkulturerbe und als "AAAAA-Ausflugsdestination" (Anm.: die 5 A sind die chinesische Art zu sagen, dass Sie diesen Ort unbedingt besuchen sollten. Über ganz China verteilt werden Sie die Ausflugsziele mit möglichst vielen As antreffen. 5A entspricht dabei in etwa der chinesischen Bewertung "top notch" ) anpreisen, wirken ein wenig fehl am Platz.
Dear Guest. How are you today? Mit diesen Worten begrüßt uns die Orientierungstafel, die uns in die Feinheiten des Ticketkaufens einweist. "Kein Wunder, dass sie die Frage vor dem Kartenkauf stellen", murmelt meine Mitbewohnerin, denn ganz billig ist der Eintritt für chinesische Studentenverhältnisse nicht. Jetzt erwarten wir Großes. Ein Blick auf den Lageplan scheint unsere Erwartungen zu bestätigen. Viele der Besucher steigen angesichts der Größe auf die Elektroautos um, um sich einen schnelleren Überblick zu verschaffen. Für meine Mitbewohner aber kommt so etwas gar nicht in Frage. Ein Blick in die Verpflegungstüte im Rucksack, einer zur Karte und wieder zurück zur Tüte. Ganz so als wollten die zwei die zu verzehrende Tofumenge pro Kopf und Quadratmeter berechnen. Dann hebt mein Mitbewohner den Kopf. Ich erwarte eine "Na, bist du jetzt froh, dass wir so viel mitgenommen haben?"-Bemerkung, aber die bleibt aus. Stattdessen stopft er die Plastiktüte entschlossen zurück in den Rucksack. "Ich denke, in fünf bis sechs Stunden können wir das Wichtigste sehen. Müssen wir eben den Proviant gut einteilen." Ich verkneife mir eine Bemerkung über den bevorstehenden "Langen Marsch" durch Wohnkomplex und Parkanlage und die Rationierungsabsichten meines Mitbewohners und knöpfe die Jacke fester zu, denn es ist frisch.
Wir folgen einer amerikanischen Schülergruppe ins erste Gebäude. "Wurde der Ort nur im Sommer genutzt?", will ein Mädchen wissen. Während meine chinesischen Begleiter die Augen rollen (immerhin heißt es ja Sommerresidenz), räuspert sich der Reiseleiter. "Eine sehr gute Frage. Ich sage euch, einer der Kaiser hat hier wirklich den Winter verbracht..." Ich kann Ihnen leider nicht sagen, von welchem mutigen Monarchen hier die Rede ist, denn es wird zu voll im Raum und meine Mitbewohner wollen weiter. Es warten schließlich noch die Gemälde- und Wandschirmsammlung, ein Einblick in die Kunst der Glas-Herstellung, die Wohnräume des Kaiserpaares, die Säulengänge und natürlich die riesige Parkanlage mit jeder Menge atemberaubende Ausblicke.