Su Yings Atem geht flach. Konzentriert nimmt sie die Barrikade ins Visier, scannt die Umgebung. In den weit aufgerissenen Augen flirrt Entschlossenheit. Ein kurzer Blick, ein entschiedener Sprung – schon segelt eine Männerfantasie in hautengen Leggings mit wehender Mähne und Stupsnase durch die Luft. Zschhhhh, brrrrrrrr, krach. Su Ying landet auf der anderen Seite, versprüht jede Menge Sexappeal und setzt ihren Widersacher blitzschnell außer Gefecht. Lässig streicht sie eine Haarsträhne hinters Ohr, bevor die langen Beine selbstzufrieden aus dem Bild stelzen. Sie ist cool, sie ist attraktiv und sie hat das Zeug zum Star. Aber niemand nimmt sie ernst. Ihre Heldentaten verstauben ungelesen in den Regalen. Dabei wollte sie doch nur gut aussehen und ein bisschen die Welt retten. Und alles nur, weil man sie unter der falschen Überschrift abgestellt hat: Manhua.
In China ist das Etikett nicht weiter tragisch. Hier bezeichnet Manhua all das, was wir mit Comics beschreiben würden. Außerhalb des chinesischen Sprachraums jedoch bezeichnen Manhua Comics „made in China“ – und damit nicht selten ein trostlose Mischung aus Pathos, Kitsch und Langeweile. „Humor, Kritik, Satire – das sind alles Dinge, die man nur zögerlich mit den Manhua der letzten zwei Dekaden assoziiert“, meint Yang Ruoling, Gründerin eines Comic-Clubs in Peking. „Um überhaupt in China publizieren zu können, greifen viele Künstler sehr tief in die Farbkiste und behelfen sich mit oft übertrieben melodramatischen Handlungen. Es ist nicht so, dass soziale Fragen von den jungen Künstlern nicht aufgegriffen werden. Migration, Verwestlichung, Familienprobleme, Homosexualität, es ist alles vertreten. Aber eben sehr gut verpackt“, sagt Yang Ruoling und lächelt entschuldigend.
Bei den Manhua-Vorläufern hingegen, war bissige Kritik Grundvoraussetzung: Gewagte Zeichnungen, die sich über das politische Alltagsgeschäft oder die Pseudo-Probleme der gehobenen Gesellschaft aufregten, finden sich bereits in der Ming-Zeit (1368–1644). Ihren heutigen Namen, Manhua, erhielten sie allerdings erst mit Anbruch des 20. Jahrhunderts, der offiziellen Geburtsstunde der Manhua. Namensgeber war der Künstler und Essayist Feng Zikai (1898–1975), dessen Karikaturen die Anfangsjahre des chinesischen Comics entscheidend prägten. Sein wichtigstes Werk war der 1925 veröffentlichte Sammelband Zikai-Manhua, dessen Titel erstmals den Begriff Manhua benutzt. Die Bezeichnung ist ans japanische Manga angelehnt.
Einer der bis heute – auch international – überaus erfolgreichen Comics ist Sanmao. Sein „Vater“ Zhang Leping wollte einen Spaßvogel zeichnen und erschuf eine Kultfigur. Mitten in den politischen Wirren der 30er Jahre erblickt Sanmao das Licht der Manhua-Welt. Der naive Waisenjunge mit den drei abstehenden Haaren, der sein Leben auf den Straßen Shanghais fristet, ist die erste ernst zu nehmende kindliche Hauptfigur eines Comics. Der unterernährte – und daher haarlose – Bengel mit den treu-doofen Kulleraugen setzt neue Maßstäbe: Seine Abenteuer kommen (fast) ganz ohne Text aus und sind damit für jedermann verständlich. Auch die im Comic angesprochenen Themen sind stets aktuell: Als Zhang 1941 als Karikaturist den japanischen Besatzern den „Papierkrieg“ erklärt, erscheint auch Sanmao auf einigen der Propagandaposter. Nach Kriegsende verarbeitet Sanmao gemeinsam mit seinen Landsleuten die Wiederaufbauzeit, durchlebt die Machtkämpfe zwischen KP und der Kuomintang, wird Zeuge der Geburt eines „neuen Chinas“ und stellt sich in seinen Dienst. Bis heute sind über 260 Sanmao-Abenteuer erschienen,die auch außerhalb Chinas Erfolge verzeichneten.
Wer es lieber klassisch mag, für den sind die Manhuas des aus Hong Kong stammenden Zeichners Li Zhiqing lohnenswert. Seit 1981 veröffentlicht er unter dem Pseudonym Qing’er seine Interpretationen der chinesischen Literaturklassiker, die er ins Comicformat bringt.
Etwas actionreicher geht es bei Kollege Ma Wing-shing zu: Dieser schuf in den achtziger Jahren den Kung-Fu-Kassenschlager „Chinese Hero“. Der Plot ist schnell erzählt: Aufrichtiger junger Mann mit Herz aus Gold beobachtet Mord an seiner Familie und bringt postwendend die Auftragskiller zur Strecke. Anschließend setzt er sich ins Land der unbegrenzten Kung-Fu-Möglichkeiten ab, beginnt ein neues Leben und den unermüdlichen Kampf gegen Trickdiebe, Straßenbanden und allerlei andere Übeltäter. Die Zeichen-Techniken, die Titelheld Hua in Szene setzen, sind dafür revolutionär: realistische Zeichnungen lassen die Helden wie „echte Menschen“ aussehen; eine ausgeklügelte Farbgebung und Bildaufteilung kreieren ein bisher nie da gewesenes Kung-Fu-Erlebnis. Markenzeichen der Serie sind übrigens ihre im wahrsten Sinne des Wortes „unvollständigen“ Figuren, denen hier ein Arm und dort ein Auge fehlt. Sollte eine Figur tatsächlich einmal zwei Beine besitzen, wird dieser Makel spätestens auf Seite 2 behoben.
Weitaus romantischer ist da schon die bunte Bonbon-Welt des taiwanesischen Zeichners Zhu Deyong. Alltagsleben in der Großstadt und die kleinen und großen Verwirrungen des Herzens ziehen sich durch seine Bände. Zhu hält seinen Landsleuten mit zuckersüßen Farben und viel schwarzem Humor den Spiegel vor und erklärt uns nonchalant, dass wir doch alle ein bisschen krank im Kopf sind.
Krank im Kopf – so behauptet manch einer – wird man auch von zu viel „Xiyangyang“. Das „fröhliche Schaf“ und seine Freunde blöken seit 2005 über die Bildschirme und setzen sich mehr oder weniger intelligent gegen den bösen Grauen Wolf zur Wehr. Über den Spaßfaktor lässt sich allerdings streiten. Dennoch ist das „fröhliche Schaf“ bei kleinen und großen chinesischen Kindern omnipräsent: Schulranzen, Kleidung, Kuscheltiere…die Liste der „schafen“ Werbeträger ist endlos. So angesagt wie Xiyangyang währe Suying auch gerne. Bis es soweit ist, wird sie einfach weiter im Regal warten, gut aussehen und davon träumen, irgendwann doch noch die Welt zu retten. Supergirls geben nicht auf. Text: Stephanie Rudolf
PS: Wenn Sie Lust bekommen haben, eine China Reise zu den Entstehungsplätzen der Comics zu unternehmen, dann stöbern Sie doch einfach mal in unseren Routenvorschlägen: entdecken Sie Peking, wandeln Sie auf Sanmaos Spuren in Shanghai, erleben Sie Kung-Fu-Feeling in Hong Kong und schließen Sie Bekanntschaft mit der Metropole Taipeh.
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