„Den Körper gesund trainieren“ – Kampfkunst Wudang Kungfu

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Kungfu (Chinesisch: 功夫 GONGFU) bedeutet sinngemäß, dass sich ein Mensch körperlich anstrengen muss. Während eines einwöchigen Trainingsaufenthalts am daoistischen Wudang-Berg durfte ich dies am eigenen Leib erfahren. Dass es beim Wudang Kungfu jedoch nicht um brachiale Kraftanwendung, sondern im Gegenteil um Meditation und innere Kultivierung geht, erzählt der folgende Bericht.

Verfasst von Lukas Weber

Kurz vor fünf weckt mich der schrille Ton einer Trillerpfeife. Ich sortiere meine steifen Gliedmaßen, Beine auf den Boden, Kopf nach oben, Arme sind auch noch da, obwohl sie sich wie Zementsäcke anfühlen. Es ist der zweite Tag meiner Trainingswoche in der Wudang-Drachentor-Kungfu-Schule (武当山传真武术院) und ich spüre nur allzu deutlich, dass es einen ersten Tag gegeben hat.

Auf dem scheinwerfergefluteten Trainingsplatz beginnt der Morgen (oder sollte man besser sagen: endet die Nacht?) mit Joggen. Die ersten Schritte schmerzen, vor allem in Oberschenkel, Knie und Kreuz spüre ich die gestrigen Anstrengungen, doch von Minute zu Minute geht es besser. FANGSONG (放松), auflockern, lautet das Motto – und es wirkt. Langsam weicht die Anspannung und ich bin bereit für die nächsten Übungen: Dehnen, Strecken, Balancieren.

Zuletzt beschließen wir die frühmorgendliche Trainingseinheit mit einer zwanzigminütigen Stehmeditation. Als es schließlich ans Frühstück geht, denke ich erleichtert: Nur noch sechs weitere Stunden!

Die Stärke der Weichheit

Die Wudang-Drachentor-Kungfu-Schule befindet sich am Fuße des heiligen Wudang-Berges (Wudangshan 武当山), weit genug von dem gleichnamigen Städtchen entfernt, um sich vom Trubel des Stadtlebens nicht ablenken zu lassen. Hier unterrichtet Meister Wang eine buntgemischte Truppe junger Chinesen und ausländischer Kampfsportinteressierten – und mich.

Um Wudang Kungfu zu erlernen bin ich an den richtigen Ort gekommen: Der Wudangshan gilt als die Geburtsstätte des Taijiquan (太极拳) und des daoistischen Kungfu. Als „innere Kampfkunst“ (内家) unterscheidet sie sich von der buddhistischen „äußeren Kampfkunst“ (外家), die als „Shaolin-Kungfu“ in der ganzen Welt bekannt ist. Während es im Shaolin-Kungfu primär um direkte Kraftanwendung geht, kommt die Macht des daoistischen Wudang-Kungfu aus der Weichheit. Gemäß dem Vorbild des Wassers, das trotz seiner Passivität den härtesten Stein zu höhlen vermag, kultivieren die Daoisten die Kraft ihres Qi durch runde, fließende Körperbewegungen. Die sanften Bewegungen des Taiji sind dabei nicht allein Meditation zur Generierung von „gutem“, fließendem Qi, sondern zugleich eine mächtige Kampfkunst, für jene Eingeweihten, die die ruhigen Bewegungen im schnellen Kampf einzusetzen wissen.

Gemeinsam mit meinem Vater bin ich hierhergekommen, um in nur einer Woche die 32 Formen des Taijiquan zu erlernen. Das Vorhaben ist weit mehr als eine ehrgeizige Herausforderung und da ich als Wudang Kungfu-Anfänger und lebenslanger Sportbanause nicht die geringste Erfahrung in Sachen Körperkoordination besitze, rät mir Meister Wang zu einer etwas grundlegenderen Übung: den 10 daoistischen Schritten (道功十步). Dabei handelt es sich um eine Vorbereitungsübung auf das Taijiquan, bei der so interessant klingende Bewegungsformen wie „Kranich“, „Enten-Spatzen-Schritt“ oder „große Wolkenhand“ gelernt werden.

Benjamin Ruß, ein Deutscher, der seit nunmehr fast 10 Jahren bei Meister Wang in Ausbildung ist und so etwas wie seine rechte Hand darstellt (s. Tischgespräch), erklärt mir, dass die Mönche einst nach einer Methode suchten, um Meditation und körperliche Fitness zu vereinen und deshalb die 10 daoistischen Schritte erfanden.

Die täglichen Trainingsinhalte

Es ist die zweite Einheit des Tages. Voller Erwartung stehe ich auf dem Trainingsplatz, bereit, das Qi fließen zu lassen. Neben Benjamin,  meinem Vater und mir sind da noch der Engländer Matthew, der sich für ein ganzes Jahr dem Training von Wudang Kungfu verschrieben hat, sowie der in etwa fünfzigjährige italienische Zahnarzt David, und natürlich die chinesischen Schüler. Die Pfeife ertönt, wir nehmen Aufstellung, der Meister erscheint und das Training beginnt.

Auf das Joggen folgen Dehnübungen, bei denen wir es gar bis zum Spagat schaffen sollen! „Fangsong, Fangsong, relax“, sagt der Meister, aber wie soll ich mich entspannen bei dem Gefühl, dass mir gleich ein Bein ausreißt?! Auf das Dehnen folgen schnelle Kungfu-Kicks, die mich gegenüber den durchtrainierten Jugendlichen einfach nur lächerlich aussehen lassen. Auf die Kungfu-Kicks folgt Krafttraining, bei dem wir Ziegelsteine durch die Luft schwingen und auf unseren Oberschenkeln balancieren. Keine Spur von meditativen Schritten, keine Spur von Qi. Allein die Schweißtropfen beginnen in der Morgensonne zu fließen.

Doch endlich, in der dritten Trainingseinheit vor dem Mittagessen, lässt uns Meister Wang einen imaginären Energieball formen und in meditativer Ruhe hin und her bewegen. Es sieht ungemein locker und einfach aus, was der Meister uns da vorzeigt, aber sobald ich selbst an die Reihe komme, zeigt sich, wie schwierig es ist, Hand- und Beinbewegungen zu koordinieren und dabei auch noch im richtigen Rhythmus zu atmen.

Jetzt verstehe ich, warum das Kraft- und Muskeltraining so wichtig ist: Die tiefe Hockstellung in der der Energieball balanciert wird erfordert nicht gerade wenig Oberschenkelmuskulatur. Außerdem habe ich das Gefühl, die schweißtreibenden Ausdauerübungen haben meine koffein- und alkoholverstopften Blutbahnen so richtig gut durchgespült – eine wichtige Voraussetzung für das Fließen des Qi.

Ein umfassendes Konzept

Wie aber kommt es, dass eine Kampfkunst wie Wudang Kungfu überhaupt Teil des Daoismus, einer Philosophie und Religion geworden ist? In der Drachentor-Schule von Meister Wang geht es ebenso wenig ausschließlich um Kampfkunst, wie es im Daoismus ausschließlich um religiöse Praxis geht. Aufklärung über das daoistische Lebens- und Weltkonzept ist ein wichtiger Teil der Ausbildung bei Meister Wang, der uns im Meditationszimmer der Schule die Möglichkeit bietet, ihn zu allerlei Themen zu befragen. Dabei erfahren wir, dass der Daoismus keine in sich isolierte Religion, sondern vielmehr einen ganzen Kosmos der unterschiedlichsten Elemente der chinesischen Kultur darstellt. Vieles was wir heute als „daoistische“ Charakteristika bezeichnen, wurde im Laufe der Zeit in diesen inkorporiert und ist dadurch erhalten geblieben.

Aber auch Themengebiete, die der Laie nicht mit Daoismus in Verbindung zu bringen wüsste, spielen in ihm eine große Rolle. So zum Beispiel die Akkupunktur und Medizinkräuterkunde, Astrologie und Wahrsagerei, Fengshui, die Lehre von der harmonischen Architektur, Musiklehre und eben auch Kampfkunst.

Letztere hat innerhalb des Daoismus eine zweifache Bedeutung, wie Meister Wang erläutert: Sie diente erstens der Selbstverteidigung der Mönche zu Zeiten von Krieg und allgemeiner Unsicherheit. Zweitens wird durch das Training die körperliche Gesundheit verbessert und Krankheit vermieden. Wer Wudang Kungfu praktiziert betreibt Gesundheitsvorsorge und verlängert dadurch sein Leben. Gerade im Daoismus ist dies von entscheidender Bedeutung, wo die meistverehrtesten Vertreter, jene die die daoistische „Erleuchtung“ erlangt haben, als „Unsterbliche“ bezeichnet werden.

Letztlich gibt es nichts, was wir wirklich besitzen, so Meister Wang, weder unser sogenanntes Hab und Gut, noch unsere Ehepartner und Kinder. Allein unser Körper und unser Wissen gehören uns. Diese gilt es zu bewahren und Wudang Kungfu ist Teil jener umfassenden daoistischen Lehre, die genau darauf abzielt.

 

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Der Lohn der Mühe

Bei 7 Stunden täglichem Training bleibt außer zum Essen weder viel Zeit noch Energie für anderweitige Aktivitäten außer dem Wudang Kungfu. Bereits um halb neun Uhr abends falle ich todmüde ins Bett und schlafe wie ein Stein bis zum nächsten Pfiff der Trillerpfeife. Aufstehen, den Muskelkater ignorieren und mich auf dem Trainingsplatz mit Ziegelsteinen abquälen. Frühstücken, trainieren, Mittagessen, trainieren, Abendbrot, trainieren, ins Bett fallen. Und erst die Hälfte der Zeit ist um! In einem verzweifelten Moment frage ich mich, warum ich mir das überhaupt antue.

Und doch geht eine erstaunliche Veränderung in mir vor. Mein Gang ist aufrechter geworden, meine Bewegungen gelassener, eine ungeahnte Kraft rührt sich in meinem Innern und mit einem unverhofften Endorphinausstoß scheint sich mein Körper dafür zu bedanken, dass ich – der ewige Bücherwurm und Schreibtischhocker – ihm endlich einmal Aufmerksamkeit schenke.

Mit den 10 daoistischen Schritten geht es ebenfalls voran. Die Hand-Bein-Atem-Koordination funktioniert von Tag zu Tag besser. Jetzt sind es nur noch Kleinigkeiten der Bewegung, bei denen Meister Wang noch auf Korrekturen hinweist. Aber jetzt kommt erst der interessante Teil, denn um die korrekte Bewegung geht es gar nicht. Sie ist natürlich eine unbedingte Voraussetzung, aber das eigentliche Ziel der Übung ist, das Qi zum Fließen zu bringen. Und deshalb höre ich ein übers andere Mal das ewige Mantra: Fangsong, fangsong. Von der starr monotonen Maschinenhaftigkeit der Bewegungsabläufe zur essentiellen Kraft im Innern der Bewegung; dorthin gilt es letztlich zu gelangen. Wenn das erreicht ist, so der Meister, dann ist alles nur noch 特别特别舒服 (sehr sehr angenehm).

Ein Leben für Kungfu

Meister Wang ist einer von vielen die eine Wudang Kungfu-Schule führen, aber er zeichnet sich dadurch aus, dass er als einziger auch wirklich hier geboren wurde. Im Laufe der Woche erfahre ich mehr über sein spannendes Leben: Schon als Junge von sieben Jahren begann seine Kungfu-Ausbildung. Was heute in gemütlichen Schulen mit Privatzimmer und eigener Dusche gelehrt wird, durfte damals nur in aller Heimlichkeit praktiziert werden: Wangs erster Meister war sein unscheinbar wirkender, sehr alter Nachbar, der nur als unglaublich guter Arzt bekannt war. Das Training fand nachts auf abgelegenen Hügeln hinterm Dorf statt. Tagesüber schlief der junge Meister Wang sehr oft in der Schule ein.

Meister Wang erzählt mir, dass er als Kind sehr kränklich gewesen sei. Häufig plagten ihn Kopfweh und Bauchschmerzen. Durch das Gongfu-Training besserte sich erstaunlicherweise seine körperliche Verfassung und die häufigen Krankheiten verschwanden. Kein Wunder, dass für ihn die tiefe Bedeutung des Gongfu darin liegt, dass es den Körper „gesund trainiert“. Die Verbindung der Kampfkunst zur Medizin ist aus diesem Blickwinkel gesehen eine ganz natürliche. Auch Meister Wang beherrscht Akkupunktur und er hat ein fundiertes Wissen über die Herstellung von Medizin. Vieles erlernte er ebenfalls von seinem ersten Kungfu-Meister, den die Leute als Heilkundigen zu Rate zogen. Damals, bemerkt Meister Wang, kamen die Ärzte noch zu den Kranken und nicht die Kranken mussten die Ärzte aufsuchen. Mitunter legten Wang und sein Meister bei Krankenbesuchen Distanzen von über 20km zurück.

Ab einem Alter von zwölf, dreizehn Jahren begann Wang in den Klöstern am Berg zu trainieren. Da er unter der Woche jedoch die Schule besuchen musste, stieg er samstagabends auf den Berg und kam Sonntags wieder herunter. Freizeit, wie sie europäische Kinder gewohnt sind, gab es keine.

Als junger Mann verließ Meister Wang Wudangshan, um seine Fähigkeiten um das Wissen anderer Klöstern zu erweitern. Er lernte sowohl in Shaolin, als auch in Dongbei und Sichuan, wo er des Tages allerlei Arbeit zu verrichten hatte, nur um am Abend ein wenig Unterricht zu bekommen. Geschlafen wurde auf rustikalen Holzbetten – wenn man Glück hatte –, manchmal musste auch der Fußboden herhalten.

Ob er denn im Laufe seines Lebens auch eine „richtige“ Anstellung hatte, möchte ich wissen, und erfahre, dass er drei Jahre bei der Polizei von Shenzhen angestellt war. Wie in einem Jackie Chan Film wandte er das Kungfu bei der Verbrecherjagd an. Dann allerdings zog es ihn nach Wudangshan zurück, wo er sich wieder verstärkt der eigenen Kultivierung widmete. Drei Jahre lebte er als Mönch in den Klöstern des Berges und begann im Jahr 1999 schließlich selbst Gongfu zu unterrichten.

Mehrere Male wechselte seine Schule den Ausbildungsort, bis sie sich 2011 außerhalb der Stadt im malerischen „Tal der Pflaumen“ niederließ. Hier will er bleiben, die Gebäude generalsanieren und die Schule zu einem Ort mit idealen Lernbedingungen verwandeln. Für chinesische Verhältnisse bietet sie, ehrlich gesagt, auch jetzt schon hohe Standards. Doch Meister Wangs Ziel ist, dass sich auch Ausländer hier wohlfühlen können. Pavillons, Teiche, Gärten und Dachterassen sollen die Schule in Zukunft noch interssanter und schöner gestalten.

Der Beginn einer lebenslangen Freundschaft?

Was mich betrifft, ist das jetzt schon zutreffend. Das Essen ist hervorragend.  Alle hier sind äußerst liebenswürdig. Vor allem aber führt das Training, so anstrengend es auch ist, zu einer merklichen Hebung der inneren Verfassung. Nach sechs Trainingstagen spüre ich zwar jeden einzelnen Muskel, aber ich habe mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt.

Am letzten Tag unternehmen wir schließlich noch einen Ausflug zu den Klöstern am Wudangshan. Benjamin, der den Berg wie seine Westentasche kennt, hat sich als Führer angeboten und er zeigt uns die exklusivsten Orte des Berges – auch jene ruhigen Stellen, die nicht von Touristen überlaufen sind. Während des Tages unterhält er uns mit vielen Geschichten über den Berg und seine legendären Bewohner, und er lässt uns an seinem fundierten Wissen über daoistische Kultur und Praxis teilhaben.  (s. Reportage "Daoistische Kultur und Mythologie des Wudang Gebirges)

Als mein Vater und ich nach einer Woche unsere Reise fortsetzen, erfüllen mich die widersprüchlichsten Gefühle: ich bin erleichtert und traurig zugleich, dass das Training vorüber ist, fühle Stolz über die angeeigneten Fähigkeiten und muss gleichzeitig bemängeln, dass ich nur einen minimalen, oberflächlichen Teil von Wudang Kungfu erlernen konnte. Gerne hätte ich erfahren welche weiteren Veränderungen für meinen Körper-Geist eine längere Fortsetzung des Trainings bereitgehalten hätte. Schließlich heißt es, dass erst nach drei Monaten der Körper von der vollen positiven Wirkkraft des Trainings profitiert. Danach muss dann mit Meditation und Qigong das Qi verfeinert und umgewandelt werden.

Einige Tage später stehe ich des frühen Morgens in einem Park in Xi’an. Ich atme tief ein und hebe die Arme über den Kopf. Dann beginne ich, einen imaginären Energieball zu formen. Die positive Energie durchströmt mich augenblicklich – und ich weiß, dass sich die Anstrengungen der letzten Woche mehr als gelohnt haben. Das Wudang-Gongfu wird mich wahrscheinlich nie mehr loslassen.

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