Es gibt einen besonderen Grund, warum ich die beschwerliche Anreise in das kleine tibetische Städtchen Dege auf mich nehme, und der lautet „Dege Parkhang Chödzö Chenmo“. In der traditionellen Holzblockdruckerei des Gönchen Lhündrub Teng Klosters lagern über 200.000 Druckstöcke, rund 70% des literarischen Erbes Tibets.
Verfasst von Lukas Weber
Um die nur wenigen hundert Kilometer zwischen Ganzi (甘孜) und Dege (德格) zurückzulegen brauche ich – mit einem kleinen Umweg – drei volle Tage. Doch die Fahrt entlang steiniger Schotterpisten und über 5.000m hohe Pässe lohnt sich schon allein der fabelhaften Landschaft wegen. Ich durchquere weitläufige Hochplateaus und enge Täler mit majestätischen, 6.000m hohen Gebirgsriesen zu beiden Seiten. Auf dem letzten Stück der Fahrt, entlang des rauschenden Jinsha Flusses (der Oberlauf des Yangtsekiang, dem drittlängsten Fluß der Welt), ist auf der gegenüberliegenden Talseite sogar ein Blick auf die autonome Region Tibet zu erhaschen.
Eine besondere Bekanntschaft
Die heute knapp 60.000 Einwohner zählende Stadt Dege war über 47 Generationen lang, bis zum Jahr 1950, Sitz der Könige des gleichnamigen Reiches, welches sowohl von Peking, als auch von Lhasa unabhängig war. Die tolerante Politik der Herrscher erlaubte es allen vier buddhstischen Schulen Tibets (Kagyü, Cö, Sakya, Gelug) wie auch der Bön-Religion (welche vor dem Buddhismus die in Tibet am weitesten verbreitete Religion war) sich hier niederzulassen. Die spirituelle Praxis in Dege ist bis heute erhalten geblieben. Überall auf den Straßen sieht man die in rote Roben gewandeten Mönche und sogar in der Hotelbar.
Hier lerne ich drei junge Klosterbewohner kennen, die bei einer Kanne Tee ihren freien Tag genießen. Auch Mönche, so erfahre ich, haben einen geregelten Arbeitsrhythmus und sie beziehen sogar ein Gehalt dafür. Meine drei Freunde im Alter von 29, 25 und 23 Jahren haben sich aus freien Stücken für das Leben im Kloster entschieden, um ihr inneres Selbst zu kultivieren. Der einzige Wermutstropfen, so scherzen wir, sei der Verzicht auf Frauen – doch daran gewöhne man sich.
Als sie mich zum Essen einladen, stelle ich mit Erstaunen fest, dass sie mit Fleisch gefüllte Teigtaschen bestellt haben. Offenbar leben die Mönche hier nicht vegetarisch, was in Anbetracht der kargen Landschaft, in der kaum Ackerbau sondern nur Viehwirtschaft betrieben werden kann, nur zu verständlich ist.
In der Holzblockdruckerei
Das berühmteste Gebäude Deges wurde im Jahr 1729 von Tenpa Tshering (1678–1739), Deges vierzigstem König, gegründet. Mit einer Sammlung von über 200.000 Druckstöcken ist „Dege Parkhang“ (Chinesisch: 德格印经院) die größte der drei bedeutendsten tibetischen Druckwerkstätten (die andern beiden sind das Sutren-Druckhaus in Lhasa und das Lhapuleng-Haus in Gansu). Hier lagern sowohl buddhistische Schriften und Bilder, als auch Schriften zu Geschichte, Medizin, Technik, Literatur und Biografien.
Noch vor Betreten des Gebäudes wird mir klar, wie viel dieser literarische Schatz den Tibetern bedeutet: Wie einen Schrein umrunden die Menschen das Gebäude, murmeln Mantren und legen mit heiligen Schriftzeichen gravierte Steine an seine Außenmauern.
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Was ich dann im Innern des dreistöckigen Hauses entdecke, rechtfertigt die kultische Verehrung aber auch ganz und gar. In schier endlosen Reihen lagern die geschnitzten Holztafeln in bis zur Decke reichenden Regalen. Auf jeden Raum folgt noch einer und noch einer. Es hat überdies etwas Gutes, dass mich zwei meiner drei buddhistischen Freunde vom Vortag durch die Druckwerkstatt begleiten – wo normalerweise fotografieren verboten ist, darf ich ungezwungen drauflosknipsen.
Schließlich gelangen wir ins Herz der Anlage. Ein offener, von Tageslicht durchfluteter Raum, in dem die hölzernen Druckvorlagen auf Papier gepresst werden. Die Methode nach der dies bis heute geschieht, ist dieselbe wie vor hunderten von Jahren: Zwei Männer sitzen sich gegenüber, die Drucktafel zwischen den Beinen. Während der eine die Tafel mit schwarzer oder, im Falle der Worte Buddhas, mit roter Tinte bestreicht, legt der andere frisches Papier auf, fährt mit einer Art Roller darüber und fertig. Die eingespielten Arbeiter agieren so flink, dass sie an einem einzigen Tag rund 2.500 Drucke herstellen können. Gedruckt werden heilige buddhistische Texte (Sutren) und religiöse Bilder in schwarzer oder roter Farbe.
Über eine steile Holztreppe gelangen wir auf das Dach des Gebäudes, von wo sich die Aussicht über die Stadt genießen lässt. Meine Begleiter zeigen auf ein Gebäude am gegenüberliegenden Hang, der gänzlich mit bunten Gebetsfahnen geschmückt ist. Dort leben jene Mönche, die sich in Seklusion zurückziehen. Dies bedeutet, dass sie über einen Zeitraum von mehreren Jahren das Gebäude nicht ein einziges Mal verlassen.
Unruhige Zeiten
Von den unzähligen Klöstern, die Dege einstmals beheimatete, stehen neben der Druckerei heute nur noch drei weitere, der Rest wurde während der Kulturrevolution (1966-1976) zerstört. Ich frage mich, warum ausgerechnet der größte Kulturschatz von den Roten Garden verschont geblieben ist, und erfahre, dass auf Geheiß Zhou Enlais (周恩来, 1898-1976), die Druckwerkstatt von der Armee geschützt und dadurch vor Zerstörung bewahrt wurde. In gleicher Weise ließ Zhou Enlai damals auch den Potala Palast in Lhasa schützen.
Im Jahr 1979 durfte schließlich der reguläre Druckbetrieb wieder aufgenommen werden und er floriert seitdem ungebrochen. Um heilige Schriften aus der Holzblockdruckei „Dege Parkhang“ zu kaufen, kommen die Pilger aus weit entfernten Gebieten angereist und ab und an verirren sich auch ausländische Touristen hierher.
Wer mit buddhistischen Texten nichts anzufangen weiß, mag sich überlegen, ob er dem Städtchen Dege einen Besuch abstatten will. Die Anreise ist äußerst beschwerlich und die Abreise ebenso. Dies erfahre ich einen Tag später auf einer dreizehnstündigen Fahrt über den Quershan-Pass (5.050m) bei der ich doch nicht mehr als 96km zurücklege. Auf der ruckelnden Rückbank des Busses sitzend blicke ich über die frischverschneite Landschaft und denke an meine drei buddhistischen Freunde, die beeindruckend feinen Holzschnitzereien, die behenden Arbeiter in der Druckerei und den in endlosen Reihen gelagerten Wissensschatz. Für mich hat sich dieser Abstecher jedenfalls gelohnt.