In Chinas südwestlichster Provinz Yunnan locken nicht nur der Charme urtümlicher Dörfer und die Möglichkeit, Lebensweise und Gebräuche der unterschiedlichsten Volksgruppen hautnah zu erleben. Die beeindruckenden Naturlandschaften der Region versprechen dem Reisenden so manches Abenteuer.
Langsam erhellt sich der Himmel. Noch verdeckt das beinah 5.600 m hohe Gebirgsmassiv des Jadekaiser-Schneebergs die Sonne, doch der Tag am Ende dieser langen Nacht ist nah. Bibbernd vor Kälte, versuche ich mit einigen letzten Holzresten das Feuer in Gang zu halten. Obwohl in Chinas tropischem Südwesten gelegen, kann es in der Provinz Yunnan (云南) mitunter ziemlich kalt werden. Besonders nachts im Gebirge. Besonders unter freiem Himmel auf nahezu 3.000 m Seehöhe.
Ich trage fünf Schichten Kleidungsstücke, buchstäblich alles was ich für diese kurze Wanderung mitgenommen habe – und friere. Doch die Kälte ist nicht mein größtes Problem. Was mich den Tag herbeisehnen lässt, ist eine ganz andere Gefahr…
Als im Osten endlich die Sonne über die gratige Bergkante steigt, übermannt mich die Freude der Erleichterung. Ich habe überlebt.
Eine Woche zuvor
Eigentlich sind sieben Tage zu wenig Zeit, um Yunnans vielzählige Sehenswürdigkeiten voll auszukosten. Kein Wunder, schließlich ist die Provinz größer als Deutschland. Ganz im Südwesten, wo das Land an Laos und Myanmar grenzt, lockt die Region Xishuangbanna mit ihrem tropischem Klima, den letzten wilden Elefanten Chinas und dem Städtchen Pu’er, in dem der legendäre Pu’er-Tee produziert wird. Im Norden hingegen, an der Grenze zu Tibet, erheben sich die Berggiganten in eisige Höhen von über 5.000m Seehöhe, während die Hauptstadt Kunming (昆明) ein gemütliches Flair und ihre eigenen spektakulären „Westberge“ zu bieten hat.
Die Fülle des Angebots auf ein vernünftiges sieben-Tage-Programm zu kürzen fällt nicht leicht, doch da Yunnan die Provinz mit der höchsten ethnischen Diversität ist, will ich die Kultur der hier lebenden Volksgruppen näher kennenlernen. Neben Miao, Dai und Yi gibt es in Yunnan noch viele andere der offiziell 56 Minoritäten Chinas, darunter die Naxi und Bai, welche im Gebiet der Städte Lijiang und Dali siedeln.
Dorthin bin ich unterwegs. Während vor dem Zugfenster die Landschaft vorbeizieht beginne ich zu ahnen, dass mein Reiseplan nicht nur Yunnans Ethnien, sondern unbeabsichtigt auch noch eine weitere Besonderheit mit einbezieht, welche diese Provinz vor vielen anderen auszeichnet: Wirklich schöne, saubere und unberührt wirkende Naturlandschaften.
Doppelte Stadt am See
Im Vergleich mit den chinesischen Großstädten wirkt Dali (大理) mit seinen 40.000 Einwohnern wie eine Miniatur. An Bedeutung steht es ihnen jedoch um nichts nach. Die Stadt hat eine mehr als 3000–jährige Geschichte und ist bereits auf Landkarten des 2. vorchristlichen Jahrhunderts verzeichnet. Vom 8. bis zum 13. Jahrhundert war es sogar Hauptstadt der aufeinanderfolgenden Reiche Nanzhuo und Dali, ehe 1253 die Mongolen einfielen und das Gebiet im Jahre 1274 als Provinz „Yunnan“ dem Reich der Yuan-Dynastie angliederten.
Aufgrund seiner Vergangenheit zählt Dali zu den 24 kulturhistorisch bedeutsamsten Städten Chinas. Berühmt ist es aber auch für Marmor, dessen chinesischer Name schlichtweg „Dali-Stein“ (大理石) lautet.
Der erste Eindruck bei meiner Ankunft ist ernüchternd. Ich stehe in einer typisch chinesischen Stadt, grau und eindimensional wie unzählige andere Städte auch. Das Missverständnis klärt sich allerdings schnell auf: Der Bahnhof „Dali“ liegt nämlich gar nicht im historischen Dali, sondern in Neu-Dali, einem Städtchen mit dem offiziellen Namen Xiaguan (下关). Hier, am südlichen Zipfel des „Ohrenförmigen Sees“ (Erhai, 洱海), leben und arbeiten die meisten der gut 650.000 Einwohner des Großraums Dali. Die eigentliche Altstadt liegt weitere 13km entfernt, eingebettet zwischen dem 4.122m hohen Cangshan-Massiv zur linken und dem Erhai zur rechten Seite.
Mit einem Minibus gelange ich in das historische Dali: Eine Ansammlung traditioneller Häuser aus der Zeit der Ming-Dynastie (1368-1644). Während eines ersten Spaziergangs merke ich, wie glücklich sich die Distanz zur Neustadt auf die hiesige Atmosphäre auswirkt. Keine Spur von Hektik, kein Lärm, kein Stress. Entspannt wandle ich die sogenannte „Straße der Ausländer“ hinab, genieße die friedliche Abendstimmung und studiere die Muster und Farben der traditionellen Häuser.
Die alten Gebäude sind wirklich schön, doch jedes einzelne von ihnen beherbergt ein Restaurant, ein Café oder ein Souvenir-Geschäft, was die Authentizität erheblich mindert. Die absurde Sauberkeit des frischverlegten Straßenpflasters und die hie und da wie Puppen herumstehenden Mädchen in der traditionellen Kleidung der Bai-Minorität verstärken den Eindruck, dass ich mich in einer künstlichen Blase befinde. In einer nicht ganz ernst zu nehmenden Inszenierung.
Unter Dali’s blauem Himmel
Obwohl optisch eine wahre Perle unter chinesischen Städten, der Einfluss des Tourismus, von dem die Stadt maßgeblich lebt, verleiht Dali eine gekünstelte Aura. Auf der Suche nach einem authentischeren China, borge ich mir ein Fahrrad um damit am Ufer des Er-Sees entlang zu radeln.
Seinen Namen hat der Erhai von seiner langgezogenen Form, die, mit einer Länge von 40km bei einer Breite von 8km, entfernt an ein Ohr erinnert. Die ansässigen Bai fischten hier einst mit der Hilfe von Kormoranen, mit denen sie in ihren Fischerbooten auf den See hinaus fuhren. Während die Vögel vom Bootrand aus fleißig nach Fischen schnappten, hinderte sie eine Schnur um ihren Hals am Verschlucken der größeren Fische, die der Fischer für sich behielt. Diese erfolgreiche Methode wurde einst in ganz China und Japan, aber auch in Mazedonien und teilweise sogar in Frankreich und England angewandt. Am Erhai bedient man sich ihrer noch heutzutage, allerdings nur aus touristischen Gründen.
Der auf 1.972m Höhe gelegene See funkelt königsblau in der Mittagssonne. An seinem Ufer stehen in regelmäßigem Abstand kleine Dörfer, dazwischen liegen landwirtschaftlich genutzte Felder. Es ist gar nicht so leicht, hier mit dem Fahrrad voranzukommen, da zwar unzählige Wege vom Dorf ins Feld, aber jeweils nur ein einziger durchgängig bis zum nächsten Dorf führt. Mehrmals verfehle ich die Verbindungsstraße und muss mein Fahrrad geschultert über Wassergräben durch die Gemüsefelder tragen. Aber es lohnt sich. Die Einfachheit der kleinen Dörfer mit ihren schmucklosen Steinhäusern stellt einen authentischen Gegensatz zum touristischen Aspekt in Dali dar: Hier wird das Dorfzentrum von einem alten Baum markiert, dort liegt verlassen eine kleine Schauspielbühne in der Mittagssonne, ein fröhlicher Mann schiebt seinen Kohlenwagen durch die Straße, vor einem Pavillon am See sitzen ein paar alte Männer beim Majiang-Spiel.
Nach etwa 20km erreiche ich Xizhou, das mit seiner gut erhaltenen Bai-Architektur zu den Sehenswürdigkeiten der Gegend zählt. Es ist Markttag und ich genieße den restlichen Nachmittag inmitten des bunten Spektakels. Als ich am Abend nach Dali zurückkehre weiß ich, der Reiz dieses Ortes liegt nicht so sehr in sich selbst, als vielmehr in seiner fantastischen Umgebung.
Fluch und Segen der UNESCO
Nach Dali, in dessen beschaulicher Umgebung es sich durchaus noch länger aushalten ließe, führt mich mein Weg nach Lijiang (丽江). Zur Zeit der Yuan-Dynastie von den Mongolen gegründet, ist Lijiang mit seinen 800 Jahren eine relativ junge Stadt. Allerdings kommt ihr große Bedeutung als Handelszentrum zwischen Yunnan und Tibet zu. Als solches war sie eine wichtige Station an der sogenannten „Teestraße“, welche von Myanmar über Yunnan nach Tibet und über die arabischen Länder Iran, Irak, Mesopotamien, Jordan bis zum Mittelmeer führte.
In der Gegend von Lijiang lebt seit ungefähr 1.400 Jahren der Volksstamm der Naxi (纳西). Ihre genaue Herkunft ist umstritten, wahrscheinlich ist jedoch, dass sie ethnisch von den tibetischen Qiang abstammen. Die ihnen eigene Dongba-Religion geht ursprünglich ebenfalls auf den tibetischen Bön-Schamanismus zurück, hat über die Jahrhunderte aber große Einflüsse aus Daoismus und Konfuzianismus erfahren. Neben einer eigenen Sprache verfügen die Naxi auch über eine eigene Schrift, welche die weltweit letzte noch gebräuchliche Hieroglyphenschrift darstellt.
Meine Erwartungen sind geteilt als ich in Lijiang aus dem Bus steige. Der Reiseführer verspricht eine „zeitlose Stadt“, warnt aber zugleich vor der heuschreckenartigen Touristenplage und empfiehlt frühes Aufstehen um vor dem großen Ansturm die Stadt für sich alleine zu haben. Vom Busbahnhof bin ich schnell in der Altstadt, welche im Unterschied zu Dali leider inmitten der lauten, eindimensional chinesischen Neustadt mit 1,24 Millionen Einwohnern liegt. Umso größer ist daher der Kontrast: In der Altstadt, die seit 1997 UNESCO Weltkulturerbe ist, herrscht eine verhältnismäßig ruhige Atmosphäre. Ein Grund dafür ist, dass hier keine Autos erlaubt sind; es ist allerdings auch schwer vorstellbar, wie diese in den engen Gassen mit den vielen Wasserwegen und krummen Brücken manövrieren sollten.
Einst galt Lijiang als Zentrum der Seidenstickerei, doch heute lebt die Stadt primär vom Tourismus, der jährlich über 4 Millionen Besucher hierher bringt. Was für die einen ein Segen, ist für die andern ein Unglück: Manche Naxi vermieten ihre Häuser in der Altstadt für gutes Geld an Han-chinesische Händler. Andere wiederum, die keine Immobilien besitzen, zwingen die steigenden Wohnkosten zum Verlassen der Altstadt. Der exzessive Tourismusbetrieb verändert auch das Gesicht der Stadt selbst: Entlang der Hauptstraßen gibt es kaum ein Gebäude, das nicht zum Restaurant oder Souvenirgeschäft umfunktioniert ist.
Hier lohnt es sich, um schöne Batik-Tücher und andere Erzeugnisse der Gegend zu feilschen. Aber wenn des Abends der Lärm aus den unzähligen Bars durch die Straßen dröhnt, fühlt man sich dennoch weit entfernt von „zeitlos“. Man kann eben nicht der einzige Tourist sein.
Doch habe ich bereits einen Plan, der mich in den nächsten Tagen weit weg von den Touristenmassen, in die Einsamkeit der Natur und ein besonderes Abenteuer hinein führen wird. [Weiterlesen Teil 2]
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