Viele Chinesen, die zum Studieren nach Deutschland kommen, sagen zwei Dinge: Erstens, das Leben in Deutschland sei zwar teurer als in China, aber immer noch günstiger als in den USA oder Großbritannien. Zweitens, Deutschland sei langweilig. Das mag stimmen. Aus chinesischer Perspektive betrachtet, verstehen viele Deutsche unter „Spaß haben“ etwas anders als Chinesen. Eine Verallgemeinerung ist natürlich immer kritisch, aber nach meiner persönlichen Erfahrung ist es hier in den meisten Fällen doch zutreffend. Zwar war zu meiner Schulzeit Sing Star ein sehr beliebtes Partyspiel für die Konsole, aber was Karaoke oder auch KTV wirklich heißt, das wissen erst die Asiaten, insbesondere die Chinesen. Könnte man das gemeinschaftliche Singen als Volkssport bezeichnen, würden Chinesen gemeinsam mit Koreanern sicherlich um die vorderen Plätze wetteifern.
Tagsüber wirken chinesische Straßen oft trist und eintönig. Es sind die Hauptstraßen, die weniger von kleinen Häusern umgebe sind als von großen Komplexen. Wenn es Dämmerung wird, fangen auch sie an zu leben. Dann beginnen die Leuchtreklamen zu funkeln und blinken und das vormals graue Haus wird zu einem wahren Anziehungspunkt. Was sind darin befindet, steht auf dem Dach in großen Leuchtbuchstaben: KTV. Hier wird Karaoke gesungen. Jetzt sagt der Deutsche: Aber... In deutschen Bars finden doch auch regelmäßige Karaoke-Partys statt! Ja, das stimmt, aber sie sind wohl kaum mit den KTV-Tempeln in China zu vergleichen.
Ein Hauch von Glamour
Die meist mehrstöckigen Klötze, so trist sie bei Tag auch von außen wirken mögen, sind von innen bis ins kleinste Detail durchdesignt. Kronleuchter und Spiegelwände vermitteln oft den Eindruck eines wahren Luxustempels. Und noch etwas unterscheidet sich bei der chinesischen zu der deutschen Karaoke. Sie findet nur sehr begrenzt öffentlich statt. Am beliebtesten sind sicherlich die Gruppenräume, die bereits zu sehr günstigen Konditionen für einen gewissen Zeitraum gemietet werden können. Oft sind auch schon einige Sacks und Getränke inklusive und wer mehr möchte zahlt mehr. Natürlich sind den Preisen nach oben keine Grenzen gesetzt. Es wird also weniger vor unbekannten Gesichtern gesungen, sondern im kleineren bis mittelgroßen Kreis. Was sowohl der Karaoke in Deutschland als auch der in China gemein ist, wenn man sich einmal festgesungen hat, kann es die ganze Nacht bis in die frühen Morgenstunden dauern. Die meisten Karaoke-Tempel schließen, wenn überhaupt, erst in den frühen Morgenstunden.
Retter der Nacht
Als ich vor vier Jahren während der WM in Brasilien in China war, diente KTV oft der Überbrückung der Nacht. Für die chinesischen Fußballfans und auch für mich, waren die Spielzeiten auf verschiedenen Ebenen eine echte Herausforderung. Für mich ein rein schlaftechnisches Problem, denn das erste Spiel des Tages begann um 21 Uhr und die anderen folgten dann um Mitternacht und um 3 Uhr in der Früh. Für die chinesischen Studenten lag das Problem tiefer: Um 23 Uhr schließen in China die meisten Wohnheime und wer bis zu dieser Sperrstunde nicht in Wohnheim ist, kommt auch nicht mehr rein. Raus natürlich auch nicht mehr. Sie öffnen erst wieder um 7 Uhr. Oft haben wir daher die Zeit bis zum Spiel oder danach bis zur Öffnung der Wohnheime beim KTV verbracht. So wurde das KTV zum Retter der Nacht.
Auch für Ausländer geeignet
Wenn man die Chance hat, mit Chinesen gemeinsam zum KTV zu gehen, sollte man sich dies nicht entgehen lassen. Es ist ein wahrhaftes Erlebnis. Aber auch uns Ausländern in China macht es Spaß, in kleineren Gruppen zu gehen. Wenn sich alle kennen, sinkt natürlich auch die Hemmschwelle, zu singen. Vielen fällt es einfacher als in Deutschland vor so vielen Unbekannten. Da muss sich der ein oder die andere erst einmal etwas Mut antrinken. Da es neben chinesischen Liedern aber auch englische Songs gibt, zählt die Ausrede nicht, man könne kein Chinesisch. Und für die Chinesisch-Lernenden ist es auch immer eine schöne Übung, auf Chinesisch zu singen.
KTV im Wandel
Was früher als gemeinschaftliche Unternehmung geplant war, lässt sich natürlich auch alleine in die Tat umsetzen. Immer wieder sieht man an Flughäfen, Bahnhöfen und in Malls Single-KTV-Räume. Diese kleinen Oasen des musikalischen Vergnügens geben dem singenden Chinesen nun auch die Chance, alleine in den Genuss von KTV zu kommen. Wenn einen also gerade ein Ohrwurm überfällt, schnell eine Kabine suchen, ein paar RMB einwerfen und schon kann man die Kabine für mindestens ein Lied mieten. Warum nicht auch alleine den Spaß haben, den man in einer Gruppe haben kann. Allerdings habe ich noch keine Person in einer solchen Kabine gesehen. Kann natürlich auch sein, dass es eher unangenehm ist, sich alleine darein zu stellen und vor sich hin zu singen.
Ob alleine oder in Gruppen: Karaoke oder einfach nur KTV gehört in China zu der Freizeitbeschäftigung No. 1. Sing Star für zuhause oder öffentliche Karaoke-Sessions finden höchstens in speziellen Kneipen für Ausländer statt. Chinesen bevorzugen in der Regel einen der vielen KTV-Tempel. Statt für einen Absacker noch in die Bar zu gehen, lieber eine Runde singen – bis es draußen wieder hell wird.