Nach Jahrzehnten des Wirtschaftsbooms und der schnellen Entwicklung kann es manchmal schwierig werden, Chinas Kulturerbe und historische Architektur zwischen den vielen neuen Hochhäusern und Einkaufszentren zu finden. Es ist eine Herausforderung abseits der breiten Boulevards des neuen Chinas die Gassen zu finden, in denen das alte China weiterlebt. Besonders, wenn man die alten und neuen Tempel kaum mehr voneinander unterscheiden kann. In Suzhou habe ich mich auf die Suche begeben, um die Überreste vergangener Zeiten aufzuspüren.
Die Tempel von Suzhou
Auf Karten kann man noch genau erkennen, wo sich die Altstadt von Suzhou einst befand: ein riesiger Stadtkern mitsamt Stadtmauern, Wällen und Kanälen. Damals gehörte Suzhou zu den wichtigsten Handelsstädten im Reich der Mitte; verbunden durch Kaiserkanal und Yangtze mit dem Rest Chinas. Das Ganze wurde geschützt durch mächtige Mauern. Viele Orte der Stadt sind heute kaum wiederzuerkennen. Doch wie ich herausfand, gibt es immer noch einzelne Gassen, Straßen und Kanäle, durch die man in Suzhous lange Geschichte eintauchen kann. Einer dieser Orte befindet sich gar nicht weit weg vom Hauptbahnhof der Millionenstadt: der Bao’en Tempel mit der allesüberragenden Bei Si Pagode. Zum ersten Mal erkundete ich das Tempelareal im Herbst, als die bunten Blätter den ganzen Tempel in eine fast märchenhafte Atmosphäre hüllten.
Glück für das nächste Jahr
Wenn man sieben Male im Uhrzeigersinn um die altehrwürdige Tempelpagode geht, verheißt dies viel Glück für das nächste Jahr. Es herrscht eine wunderbar erholsame Ruhe im Tempel, keine Besuchermassen, keine Souvenirgeschäfte. Nur ein paar Besucher erfreuen sich des klassischen Tempelgartens bei einer Tasse Grünen Tees aus dem alten Teehaus. Es scheint, als würde die Zeit seit Jahrhunderten stillstehen, inklusive des älteren Mannes, der bedächtig die Herbstblätter von den Wegen fegt.
Die Spuren vergangener Zeiten
Nach dem Tempelbesuch verlasse ich die Hauptstraße und folge kleinen Gassen entlang der Kanäle. Diese scheinen zu versteckten Schätzen inmitten der früheren Altstadt zu führen. Nach einem Spaziergang durch die Hinterhöfe der älteren Häuser, die ab und an einen Einblick in den Alltag der Bewohner erlauben, landete ich wieder an einer Hauptstraße. Um mich herum konnte ich nur Modernes entdecken, doch kurz bevor ich aufgeben wollte, sah ich aus dem Augenwinkel die Spitze einer kleiner Pagode.
Nicht so verziert und reich geschmückt wie die erste, deutet dies in China doch meist auf einen älteren Ursprung hin. In einem kleinen Garten, von der restlichen Stadt abgegrenzt durch alte Mauern, fand ich ein kleines Paradies. Eine Ansammlung alter Ruinen, Steinfiguren und Wandmalereien, verstreut in dem kleinen Park – hoch überragt von zwei alten Pagoden. Der Name des früheren Tempels ist passend: Shuang Ta, also Doppel-Turm. Die Chinesen scheinen bei der Namensgebung eher direkt zu sein.
Von den klassischen Gärten der Stadt gefiel mir bei weitem der Garten des Meisters der Netze am besten. Kleiner und weniger überlaufen, fiel es mir hier am leichtesten die Augen zu schließen und das Gefühl des Alten Suzhous in mir aufzunehmen. Die Blütenpracht der Gärten im Frühling steht dabei im Kontrast zum Gefühl der melancholischen Vergänglichkeit im Herbst. Die Gärten regen zum Nachdenken an. Was spielte sich in den Pavillons der Beamten und Wohlhabenden über die Jahrhunderte ab?
Eine Stadt vor der Stadt
Zum Abschluss lief ich entlang des Kaiserkanals um die Stadt herum. Als früheres Zentrum der Seidenproduktion im antiken China fand schon Marco Polo die Stadt umwerfend. Nahe der Shantang Jie, an der westlichen Seite des Stadtkanals, findet man viele historische Gebäude. Einst standen sie direkt vor den Toren der Stadt. Damals schon platzte Suzhou aus allen Nähten. So kam es, dass sich Händler und Handwerker vor den Stadttoren niederließen. Über die Zeit bauten sie dort ihre eigenen Gebäude und Märkte. Eines von ihnen ist der nahe gelegene Shenxian Tempel. Umgeben von Weihrauch und buddhistischen Wandgemälden schweift mein Blick über die alten Kanäle, auf denen einst Sichuanpfeffer und Seide transportiert wurden.
Mu Du und Suzhous Stadtmauer
Etwas vor den Toren der Stadt befindet sich die kleine Altstadt von Mu Du. Nur wenige Kilometer von Suzhous pulsierender Innenstadt entfernt, fühlt man sich hier in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt. Zwischen Bergen und dem Fluss Xu ziehen sich kleine weiße Steinhäuser entlang der Gassen und Kanäle. Schon die Kaiser der Qing Dynastie schätzten Mu Du für sein grünes Umfeld und die Nähe zur Natur.
Nach einem Spaziergang durch die Innenstadt kann man auf die Hügel in der Umgebung wandernd bis nach Suzhou blicken. Auch wenn sich dieser Ausblick über die letzten Einhundert Jahre sicher verändert hat, ist er atemberaubend schön. Aber durch Mu Du kann man erahnen, wie groß die Stadt schon zu Zeiten der Tang-Dynastie (618-907) gewesen sein muss. Einer der wenigen überlebenden Zeitzeugen aus dieser Periode ist das Pan-Tor, ein Teil der alten Stadtmauer. Die meisten Passanten laufen an dem Tor einfach vorbei und bemerken es gar nicht.
Die knapp 14 Kilometer lange Stadtmauer, die Suzhou mit ihren Maßen von etwa 9 km umschloss. Wer die Altstadt umlaufen möchte, sollte entsprechend gut zu Fuß sein.