Es gibt ein paar Dinge, die werden in unserer WG sehr ernst genommen. Wochenendausflüge gehören definitiv dazu. Ihre Vorbereitung erfordert deswegen besonderen Einsatz. Beispielsweise bei der Wahl des Ausflugsziels: Unsere Ausflüge enden jedes Mal damit, dass wir durchgefroren beschließen, nächstes Mal südlichere Gefilde aufzusuchen, um dann bei der nächstbesten Gelegenheit doch wieder gen Norden zu reisen.Und so ignorieren wir auch diesmal alle Hinweise, dass es im 200km entfernten Chengde um einige Grad kälter sein wird, es nicht umsonst als angenehm kühle Sommerresidenz der Qing-Kaiser angepriesen wird und wir zu allem Übel auch noch im Frühherbst dorthin wollen. Was soll auch passieren, denn wir sind dank meiner Mitbewohner für alle Eventualitäten hinreichend gerüstet. Bei der Berechnung unserer Verpflegung sind meine Mitbewohner nämlich von Haus aus großzügig. Den Einkaufskorb unter dem Arm schieben mich die zwei fest entschlossen vor ein überdimensionales Snack-Regal und geben den schier unlösbaren Auftrag: Such dir was aus! Da beide gleichzeitig mit fachmännischem Blick die Waren scannen und in Sekundenschnelle Position und Preis ihrer Favoriten ausgemacht haben, beschränke ich mich darauf, Mund und Korb zu halten. Süße Trockenfrüchte, Saqima (eine leicht-klebrige Trocken-Nascherei, über die ich Sie demnächst genauer aufklären werde), Bonbons, Teigwaren mit allen denkbaren und nicht-denkbaren Füllungen, Erdnüsse, eingelegte Tofu-Stückchen (schließlich brauchen wir ja nicht nur Süßes, sondern auch Salziges) … Und so schleppen wir eine ansehnlich große Wu-Mart Tüte heim, deren Inhalt die gesamte Provinz Hebei für die nächsten zwei Wochen versorgen könnte.
Außerdem besticht unsere Ausflugsplanung durch optimale Zeitausnutzung: Um 5:30 klingelt der Wecker. Eine halbe Stunde später sind wir aus dem Haus und weitere dreißig Minuten vergehen, bis wir im Busbahnhof Liuliqiao vor der Anzeigetafel stehen und den passenden Bus suchen. „Die Fahrt dauert nur drei Stunden“, hat unser Mitbewohner versprochen und genau aus diesem Grunde, komme was da wolle, hat sie auch exakt drei Stunden zu dauern. Die Anzeigetafel allerdings ist anderer Ansicht und schreibt alle Routen nach Chengde mit mindestens fünf Stunden aus. Mein Mitbewohner stürzt ans Ticket-Fenster „Drei Karten, der nächste Bus nach Chengde, der in drei Stunden da ist.“ Die Dame schaut auf die Uhr, nickt und schiebt drei Tickets durchs Fenster. Ausgang 349, Abfahrt 6:40. Da 6:40 Uhr in circa sechzig Sekunden beginnt, nehmen wir die Beine in die Hand, schlittern über den Steinboden in Richtung Ausgang 349 und lassen uns schließlich neben andere übermüdete Wu-Mart-Tütenbesitzer mit vom Rennen geröteten Gesichtern und zu dünnen Jacken fallen. Der Bus rollt an. Beim Vordermann erkundigen wir uns, wie lange die Fahrt dauern wird. „5 Stunden.“ Meine Begleiter irritiert das noch lange nicht. Gemeinsam mit den anderen Fahrgästen beginnen sie, den Inhalt der großen Plastiktüte zu durchforsten.
Nach einer guten Dreiviertelstunde bleibt der Bus stehen. Wir sind immer noch mitten im Stadtgebiet Peking, als es wegen Motorschadens Aus- und Umsteigen heißt. Unser neuer Busfahrer führt ein strenges Regiment. Nachdem er uns in die Feinheiten des korrekten Verhaltens zivilisierter Fahrgäste eingewiesen hat, geht es weiter. Endlich erreichen wir die Stadtgrenze und damit die Schnellstraße, die von Peking nach Chengde führt. Hinter der Mautstation beginnt die eigentliche Reise. Mitten hindurch durch die endlose Hügellandschaft, die sich heute besonders herausgeputz zu haben scheint. Vor dem blauen Himmel wirken die Hügelketten, wie Wellen im Meer. An einigen Stellen hat bereits der "Indian Summer" eingesetzt und die Blätter links und rechts der Fahrbahn funkeln in sämtlichen Rot-Nuancen. Der Höhepunkt ist die Passage entlang der Großen Mauer bei Simatai. Nach einer Bewunderungspause geht es schließlich in den Endspurt. Und irgendwie hat es dann doch wieder geklappt: Gegen 10 Uhr fahren wir auf dem Busbahnhof in Chengde ein, packen die aus unerklärlichen Gründen immer noch gut gefüllte Plastiktüte in den Rucksack und machen uns ans Besichtigen.