Während die Dame am Eingang des "Freilichtmuseums" sich tiefer in ihren dicken Parker kuschelt, greifen wir zu Schal und Mütze und stapfen los. Im Gegensatz zu den bunten Farbmedleys, die die Palastgebäude der Hauptstadt schmücken, wirkt hier alles etwas gesetzter, bescheidener, ruhiger.
Wir bereuen trotz Kälte nicht, nicht im Hochsommer gekommen zu sein, denn vor dem Hintergrund einer märchenhaften Herbstlandschaft entfaltet die vorherrschende Farbkombination aus grün, weiß und gelb ihre ganze Magie. Eine weitere Besonderheit sind die vielen Holzarbeiten und -verzierungen, die nicht nur ein nettes Fotomotiv bieten, sondern das gesamte Spektrum der chinesischen Symbolwelt eingefangen haben. Und für Geschichtsinteressierte gibt es allerorts Informationstafeln zu den Daten der Kaiser und ihrer mehr oder weniger zahlreichen Nachfahren. Meiner Mitbewohnerin entgeht nicht, dass ihr Lieblingskaiser Kangxi mit 55 Sprösslingen besonders fleißig war. Wir klettern mittlerweile durch den kaiserlichen Steingarten. Inmitten dieser Idylle findet sich ein kleiner Pavillion. Hier beschließen wir, dass es Zeit ist, die Kraftreserven aufzufüllen. Während sich die Plastiktüte zu leeren beginnt, schweift der Blick über den Mittelsee, an dessen Ufern noch mehr Schätze darauf warten entdeckt zu werden.
Da es immer noch recht frisch ist - das Quecksilber zeigt gerade mal sieben Grad - folgt die Aufwärmübung Pagodenklettern. Zur Belohnung gibts Herbstromantik aus der Vogelperspektive und ein bisschen wärmer ist uns auch. Das nächste Ziel ist schnell in Sichtweite: Ein kleiner Pavillion mit filigranem Inhalt: In den Steinboden ist ein kleines "Labyrinth" gearbeitet, durch dessen Gänge sich das Wasser seinen Weg bahnt. Wir sind an einem sogenannten Liu Bei Ting, wörtlich übersetzt einem Pavillion für fließende Tassen, angekommen. Dieses Spielzeug stammt aus der Zeit der Drei Reiche und hatte ursprünglich einen ganz praktischen Sinn: Während man sich im Pavillion bei Speis und Trank gütlich tut, kann es schon mal passieren, dass man in ein längeres Gespräch verwickelt wird und das Trinkgefäß absetzen muss. Warum also nicht die "Tasse" in einen kleinen Wasserlauf setzen und sie solange durchs Labyrinth fließen lassen, bis sie wieder beim Eigentümer angekommen ist? Das sieht gut aus, macht Spaß und hält den Inhalt schön kühl. Über die Jahrhunderte hat sich die Nutzungsweise des Liu Bei Ting allerdings etwas geänder.
Heute findet man diese Art Pavillions extrem selten. Was sie nicht minder beliebt macht. Sie haben nämlich Orakelfunktion: Man nehme ein Stück Papier, ein Blatt oder eine leichte Münze und werfe das Objekt der Wahrsagebegierde ins Wasser. Dann beobachte man, wie lange es über Wasser bleibt bzw. ob es seinen Weg durchs Wasserlabyrinth findet oder an welcher Stelle es stecken bleibt. Nun assoziiere man noch das Labyrinth mit dem eigenen Lebensweg - schon wissen Sie, wie weit Sie es in ihrem Erdendasein bringen werden. Genau aus diesem Grund verrate ich Ihnen mein Ergebnis lieber nicht.
Wenn Sie nach so viel Magie glauben, Sie hätten schon alles kuriose in Chengde gesehen, dann sollten Sie einen Abstecher zum imperialen Gemüsegarten machen. Zugegeben, für die Überschrift "imperial" ist er ein bisschen klein geraten und ein bisschen Unkraut zupfen täte auch mal wieder Not. Dennoch, der Anblick des Gemüsebeetes mit großem Namen und kleinen Ausmaßen, das von sage und schreibe acht Bannern in leuchtenden Farben flankiert wird, ist kurios. Da sage noch einer die Chinesen hätten keinen Humor.
Wirklich imperial - zumindest für Stilblütenjäger - wirds hinter einem der Wohngebäude. Gerade haben wir noch die Glaskreationen der Qing-Zeit bestaunt - eine der frühesten und kreativsten Formen deutsch-chinesischer Zusammenarbeit, denn die hier ausgestellten Objekte wurden nach einer Technik gefertigt, die aus Deutschland ins Reich der Mitte gebracht wurde. Nun aber richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf einen "Grabstein". Die schwarze Infotafel mit weißen Lettern ist nicht nur die am exklusivsten gestaltete in der gesamten Anlage, sondern sie verkündet stolz, dass wir uns hier an einem historisch wichtigen Ort befinden: The former address of the emperor's toilet. So viel Eloquenz fürs stille Örtchen, spätestens jetzt hat sich der Ausflug gelohnt.
Wir sind bereit für die Königsdisziplin: Ein Abstecher in die Berge, die natürliche Begrenzung der Sommerresidenz. Vorher noch ein Griff in die Verpflegungstüte. Der kummervolle Blick meines Mitbewohners verrät nicht, was ihm mehr Sorgen bereitet, die sich leerende Plastiktüte oder der bevorstehende Aufstieg. Ein letzter sehnsüchtiger Blick auf die Flotte Elektroautos, die müde Besucher mit Naturhunger unter leisem Surren durch die Hügellandschaft befördern. Dafür aber sind wir ungestört. Die Größe der Anlage sorgt dafür, dass man schnell den Eindruck bekommt, man sei - zumindest beinahe - allein unterwegs. Wir haben sogar das Glück ein paar Rehen über den Weg zu laufen.
Fast fünf Stunden sind wir tapfer durch den Sommerpalast gestapft, jetzt macht sich die Kälte bemerkbar. Nachdem wir die "Steppenlandschaft" durchquert, die abgelegene Bibliothek erkundet, bei den heißen Quellen ein bisschen Wärme gesucht haben und die Wohnräume von Cixi bestaunt haben, kommen wir durchgefroren aber glücklich am Ausgangstor an. Mein Mitbewohner verteilt den Restinhalt und knüllt die Plastiktüte zusammen: sie ist leer. Zufrieden und mit dem Geschmack sauer-scharfer Tofustücke auf der Zunge machen wir uns auf den Heimweg. Chengde im Herbst hat sich absolut gelohnt!