Tibet ist nicht Tibet

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Wem Tibet zu weit oder zu beschwerlich zu erreichen ist, der muss nicht extra den ganzen Weg nach Lhasa auf sich nehmen, um die tibetische Kultur zu erleben.  Das historische Tibet erstreckt sich auch über die Grenzen der Provinzen Sichuan, Yunnan und Qinghai hinaus, und wer sich für Buddhismus und das Leben der Tibeter interessiert ist hier genau richtig.

Verfasst von Lukas Weber

Ein kurzer Absatz im Reiseführer, dass man in Westsichuan der tibetischen Kultur begegnen kann, bereitet mich nur sehr ungenügend auf das vor, was mich erwarten soll. Doch als ich in Tagong (塔公), dem ersten Zwischenstopp meiner Reise durch die Berge Westsichuans, aus dem Wagen steige, muss ich erkennen, dass ich mich in einer völlig fremden, in einer anderen Welt befinde.

Die Häuser in Tibet sind besonders schön verziert Die Häuser in Tibet sind besonders schön verziert

Erste, offensichtliche Unterschiede

Anstatt der überbevölkerten, lauten und hektischen Atmosphäre des zentral- und ostchinesischen Flachlandes, finde ich hier eine nur spärlich besiedelte Landschaft vor, in der die Architektur der Wohnhäuser den augenscheinlichsten Unterschied darstellt. Anstatt in billigen Betonbauten leben die Tibeter in wunderschön mit bunten Farben verzierten Häusern aus Bruchstein oder aus dunkelrot bemalten Holzbalken. Allgegenwärtig an den Fassaden ist die religiöse Symbolik des Buddhismus.

Doch auch die Mentalität der hier in Abgeschiedenheit lebenden Menschen ist wesentlich anders. Kennzeichnend dafür ist, wie lange man in den tibetischen Restaurants aufs Essen wartet. Dauert es anderswo in China keine fünf Minuten bis das Essen am Tisch steht, wartet man hier mindestens eine Viertelstunde. Die Menschen lassen sich Zeit, der Rhythmus des Alltags ist spürbar langsamer.

Unterwegs auf tibetischen Straßen Unterwegs auf tibetischen Straßen

Dies suggeriert auch ein kilometerlanger Flussabschnitt kurz vor Tagong, entlang dessen jeder einzelne der aus dem Wasser ragenden Steine mit tibetischen Schriftzeichen graviert und bunt bemalt ist. Wie viele Jahre die Schaffung dieses Meisterwerkes in Anspruch genommen hat, ist kaum zu ermessen. In bunten Farben leuchtet die klare Botschaft zum Himmel: Wir haben hier viel Zeit.

Etwas ungewohnt ist sie schon, diese andere Mentalität der Tibeter. Während die Han-Chinesen stets darum bemüht sind, mir in allen möglichen Situationen behilflich zu sein, kümmert sich hier kaum jemand um die Probleme eines desorientierten Ausländers. Die Menschen grüßen freundlich, wie überall in China, strecken mir die Hand zum Gruß entgegen und binden mich in interessierte Gespräche ein. Aber wenn es darum geht, eine Fahrgelegenheit von A nach B zu organisieren, ist das Winken mit der Geldbörse der scheinbar einzige Weg zum Erfolg. Doch hat dies wahrscheinlich weniger mit den Tibetern selbst, als mit der „Minibus-Mafia“ zu tun…

Eine andere Art der Fortbewegung

Das Verkehrssystem in diesem Teil Chinas ist gänzlich ungewohnt. Klar, dass es in Bergtälern auf 3.000m Seehöhe keine Eisenbahn gibt, doch auch das Busnetz ist bemerkenswert unterentwickelt. Stattdessen stellt man sich mit seinem Rucksack einfach an die nächste Straßenecke und wartet auf einen Minibus, der in die eigene Richtung fährt. Was oft nicht länger als ein paar Minuten dauert, kann sich in abgelegeneren Gebieten zu einer Angelegenheit von mehreren Stunden entwickeln.

Der 5000m hohe Caodala-Berg thront über der Passstraße Der 5000m hohe Caodala-Berg thront über der Passstraße

Per Minibus, eingezwängt zwischen lächelnden Tibetern, gelange ich von Tagong nach Luhuo (炉霍), wo ich innerhalb von Minuten einen Anschluss nach Ganzi (甘孜) finde. Obwohl die Strecke nur 72km beträgt, benötigen wir dafür geschlagene vier Stunden. Die Straße ist in einem derart schlechten Zustand, dass man sich mehr rauf und runter als vorwärts bewegt. Doch ist dies nur der Anfang der Strapazen: Je tiefer ich in die endlose Weite der Bergwelt vordringe, umso langsamer gestaltet sich das Vorwärtskommen. Eine Strecke von 100km nimmt nicht selten einen halben Tag Fahrt in Anspruch, doch dafür entschädigt die spektakuläre Landschaft. Die Farben in der dünnen Höhenluft scheinen doppelt kräftig, der Himmel ist sattblau, von weißen Schäfchenwolken gesprenkelt, und in den grünen Tälern glänzen die roten Häuser der Tibeter wie kleine Juwelen in der Landschaft.

Es ist schier unglaublich, durch welches Gelände hier Fahrstraßen gebaut wurden. Ja, sie sind staubig und steinig und ruckelig, aber es sind Straßen, auf denen man, im Minibus sitzend, schneebedeckte Pässe von über 5.000m Höhe erklimmt.

Mönche in roter Robe Mönche in roter Robe

Religion dominiert den Alltag

Was die tibetische Kultur am offensichtlichsten von der Kultur der Han-Chinesen unterscheidet, ist die große Bedeutung die die Religion bei den Tibetern hat. Allerorts sind buddhistische Tempel, Klöster und Stupas zu sehen. Von diesen Institutionen abgesehen haben die Menschen die Religion aber auch in ihren Alltag integriert. Nahezu jeder trägt eine oder mehrere Gebetsketten mit sich und beginnt, sobald gerade nichts anderes zu tun ist, Mantren zu sprechen und dabei die Perlen der Kette abzuzählen, wie wir das in Europa vom Rosenkranz kennen.

Neben den vielen Geschäften für religiöse Artikel, sind im Straßenbild die Mönche allgegenwärtig.

Begleiterinnen auf dem Weg nach Yaqing Begleiterinnen auf dem Weg nach Yaqing

Einfach überall sieht man die roten Roben: Auf den Straßen, in Restaurants, in Banken, Geschäften und auch in jedem Minibus ist mindestens ein Mönch oder eine Nonne zugegen. Auf der Fahrt von Ganzi nach Yaqing (亚青) sitzen gleich drei Nonnen auf der Rückbank des Wagens, die ebenso wie ich unterwegs in die tiefste Einöde sind. Unser Ziel ist ein Kloster fernab jeglicher Zivilisation, das angeblich mehrere 10.000 Mönche und Nonnen beherbergt.

Die buddhistische Siedlung von Yaqing Die buddhistische Siedlung von Yaqing

Das Herz des Landes schlägt für die Religion

Nach fünf Stunden Fahrt durch völlig unbesiedeltes Gebiet, in dem uns außer ein paar Nomaden und Straßenarbeitern absolut nichts und niemand begegnet, muss ich meine bisherige Vorstellung der „tiefsten Einöde“ revidieren. Yaqing liegt mehr als abgelegen. Auf einem windgepeitschten Plateau drängen sich hier tausende winzige Hüttchen aneinander, in denen Nonnen und Mönche ein Leben der Abgeschiedenheit führen. Die isolierte Lage ist offenbar ideal, um sich den tiefen Prinzipien des religiösen Lebens zu widmen. Bewusst gewählt ist die Karg- und Rauheit des Ortes, als Teil der buddhistischen Disziplin. Hier bin ich angekommen, im Herzen eines Landes, das für die Religion schlägt.

Eine riesige goldene Statue thront über dem Ort, der ausschließlich von Mönchen und Nonnen (und von streunenden Hunden) besiedelt ist. Rote Roben wohin das Auge blickt, freundlich grüßende Gesichter und strahlendes Lächeln begegnen mir auf meinem Erkundungsgang durch das Areal. Ich lasse mich von der Masse treiben, die dem zentralen Tempel zuströmt und stehe plötzlich, in der Sonne auf dem weiten Tempelvorplatz, inmitten eines roten Meeres.

Die Mönche haben sich zum Gebet versammelt Die Mönche haben sich zum Gebet versammelt

Zu Tausenden haben die Mönche sich versammelt um gemeinsam Mantren zu singen. Das Rot der Roben, darüber der blaue Himmel und dazwischen das blitzende Gold des Tempels geben ein fantastisches Bild. Ein alter Mönch breitet für mich seine Decke aus und bedeutet mir mit einer Geste mich zu ihm zu setzen. Während er meine Hand in die seine nimmt und minutenlang fest gedrückt hält, herrscht schweigendes Einverständnis. Gemeinsam lauschen wir der Rede des Lamas vom Balkon des Tempels, von der ich kein Wort verstehe.

Doch die Bedeutung der Worte ist nebensächlich. Hingegen deutlich wahrnehmbar ist die positive Energie dieses Ortes, eine tiefe Ruhe die sogar die stets bellenden Hunde beruhigt. Eine Ziege streunt zwischen den Andächtigen umher und auch mich erfasst die Zeitlosigkeit dieses andächtigen Ortes. Sie trägt mich hinfort von allem mir bisher Bekanntem, fort vom Alltag, fort von der Ökonomie des Geschäftemachens, der wir für gewöhnlich unser Leben widmen, fort von den Belanglosigkeiten, über die wir uns den Kopf zerbrechen. Die Welle erfasst mich und spült mich an ein fremdes Ufer, in ein völlig anderes Land, in eine andere Welt.

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