Die chinesische Schriftkunst blickt auf eine über 3.000-jährige Geschichte zurück und nimmt einen bedeutenden Stellenwert in der chinesischen Kultur ein. Sobald das Schreiben von Schriftzeichen unter ästhetischen Gesichtspunkten stattfindet, spricht man von Kalligrafie. In diesem Beitrag erhaltet ihr einen kleinen Einblick in das Erstellen einer Kalligrafie und könnt etwas über die Geschichte der chinesischen Schrift lernen!
Was benötigt man, um eine Kalligrafie herzustellen? Ganz klar: die richtigen Werkzeuge! Diese werden auch als „Vier Kostbarkeiten des Studierzimmers“ bezeichnet und erhalten eine besondere Wertschätzung. Es handelt sich um Pinsel, Tusche, Reibstein und Papier. Vor der Erfindung des Papiers hat man auf Schriftträger wie Holz, Bambus oder Seide zurückgegriffen. Für Inschriften nutzte man Knochen, Metall, Stein, Jade oder Keramik.
Die Tusche wurde früher aus Kiefernruß, Knochenleim und Duftstoffen, wie Kampfer oder Moschus hergestellt und in Tuscheblöcke gepresst. Um flüssige Tusche zu erhalten, hat man den Tuscheblock auf einem Reibstein mit etwas Wasser angerieben. Das Reiben der Tusche war bereits ein meditativer Akt, bei dem der Schreiber sich Gedanken über sein Kunstwerk machen konnte. Heute wird für Kalligrafien häufig fertige Tusche in flüssigem Zustand aus der Flasche verwendet.
Neben den Werkzeugen benötigt man natürlich auch umfangreiche Kenntnisse der chinesischen Schriftzeichen. Bereits im vormoderne China wurde ein System aus über 50.000 Schriftzeichen entwickelt. Von einem gebildeten Menschen wird im Reich der Mitte erwartet, ca. 8.000 dieser Zeichen zu beherrschen. Hier eine kleine Einführung für Einsteiger:
Unter Piktografie versteht man eine Bildsprache, das heißt, dass piktografische Zeichen das abbilden, was sie darstellen. Sie haben sich im Laufe der Zeit allerdings stark verändert und lassen nur noch erahnen, welches Bild sie vor über 3.000 Jahren einmal dargestellt haben.
日 (rì) Sonne, Tag 月 (yuè) Mond, Monat 木 (mù) Baum, Holz
人 (rén) Mensch 鸟 (niǎo) Vogel 口 (kǒu) Mund
明 (míng) → Zusammengesetzt ergeben Sonne und Mond das Zeichen „Leuchten“.
休 (xiū) → Aus Mensch und Baum ergibt sich das Schriftzeichen für „Pause“.
林 (lín) → Aus zwei Bäumen ergibt sich das Schriftzeichen für „Wäldchen“.
森 (sēn) → Aus drei Bäumen ergibt sich das Schriftzeichen für „Wald“.
鸣 (míng) → Aus Vogel und Mund bildet sich das Zeichen für „zwitschern, piepen“.
一 (yī) Eins 二 (èr) Zwei 三 (sān) Drei
中 (zhōng) Mitte 本 (běn) Wurzel 末 (mò) Wipfel
Diese Gruppe von Schriftzeichen sind als Symbolzeichen zu verstehen. Sie weisen auf Sachverhalte hin. Der senkrechte Strich im Schriftzeichen 中 für „Mitte“ verläuft beispielsweise durch die Mitte eines Rechtecks. Das Schriftzeichen 本 für „Wurzel“ besteht aus dem Schriftzeichen für 木 „Baum“, wobei ein waagerechter Strich den unteren Teil des Baumstammes markiert.
Diese Art von Schriftzeichen setzt sich aus einem sinngebenden und einem lautgebenden Teil zusammen. In diesem Fall ist der rechte Teil des Zeichens lautgebend und der linke Teil sinngebend. Dieser Kategorie gehören heute die meisten aller chinesischen Schriftzeichen an – etwa 90 Prozent.
妈 (mā) Mutter → Der linke Teil des Schriftzeichens bedeutet „Frau“ bzw. „weiblich“ 女.
蚂 (mǎ) Ameise → Der linke Teil dieses Schriftzeichens bedeutet „Insekt“ 虫.
Die Zeichen werden zwar beide „ma“ ausgesprochen, allerdings in zwei unterschiedlichen Tonlagen. Im modernen Standardchinesisch (auch Mandarin) gilt es, die vier verschiedenen Tönhöhen zu treffen.
Zu dieser Gruppe gehören Zeichen, die es ursprünglich bereits gab und die nur aufgrund der gleichen Aussprache für ein neues Wort gewählt wurden. Das Schriftzeichen 不 (bù) wird heute als Partikel für die Verneinung verwendet. Ursprünglich hatte das Zeichen die gleiche Aussprache, hat aber eine Orchideenart bezeichnet.
Diese Zeichen haben sich aus einem grafisch ähnlichen Zeichen für ein Wort ähnlicher Bedeutung entwickelt. Zum Beispiel 考 (kǎo) „(alter) Vater“ aus 老 (lǎo) „alt“. Dies ist allerdings eine besonders seltene und zum Teil problembeladene Kategorie.
Die frühesten Zeugnisse chinesischer Schrift wurden Ende des 19. Jahrhunderts eingeritzt auf Tierknochen entdeckt. Bei systematischen Ausgrabungen wurden in der antiken Shang-Hauptstadt Anyang über 20.000 Knochen und Fragmente freigelegt. Es handelt sich dabei um sogenannte Orakelknochen, die den frühen Shang-Königen bei der Weissagung wichtiger Ereignisse dienten. Die Schriftzeichen finden sich sowohl auf Schulterblättern von Rindern als auch auf Brustpanzern von Schildkröten. Durch eine erhitzte Feuerquelle, die in vorgebohrte Mulden in den Knochen eingeführt wurde, sind im Knochen Risse entstanden. Diese Risse wurden dann vom König als Antworten der vergöttlichten Ahnen gedeutet. Der Vorgang der Divination wurde im Anschluss nach einer streng vorgegebenen Regel in den Knochen eingeritzt. Auf den Orakelknochen finden sich bereits über 5.000 verschiedene Schriftzeichen und sie sind Artefakte der Geschichte der chinesischen Schrift. Diese gehören am häufigsten der Gruppe der piktografischen Schriftzeichen an. Heute machen diese Zeichen allerdings nur noch einen geringen Anteil der chinesischen Schrift aus.
Aus der Orakelknocheninschrift haben sich im Laufe der Jahrhunderte fünf Hauptarten chinesischer Kalligrafie entwickelt. Neben der Siegelschrift, die sich bereits während der Zhou-Dynastie bildete, haben sich mit der Kanzlei-, Kursiv-, Konzept- und Regelschrift vier weitere Schriftarten herausgebildet, die bis heute zu den prägenden Stilrichtungen der chinesischen Kalligrafie zählen.
Die Siegelschrift 篆书 findet sich sehr häufig auf antiken Bronzegefäßen der Zhou-Zeit (11. - 3. Jh. v.Chr.) sowie in Steininschriften. Sie wird unterteilt in große und kleine Siegelschrift. Die kleine Siegelschrift wurde im Zuge der Vereinheitlichung der Schrift während der Qin-Dynastie (221-206 v. Chr.) eingeführt. Ein besonderes Merkmal der Siegelschrift ist die gerundete Form und die gleichmäßige Strichstärke der Zeichen. Auch nach der Entwicklung der anderen Schrifttypen fand die Siegelschrift weiterhin Verwendung. Sie kam insbesondere bei der Herstellung der bis heute in China gebräuchlichen roten Stempelsiegel zum Einsatz. Die persönlichen Siegel dienten im alten China als gültige Unterschrift der Literaten und Beamten. Sie finden sich auf sämtlichen erhaltenen Kalligrafien berühmter Meister. Im heutigen chinesischen Alltag werden wichtige Dokumente immer noch mit einem Stempel in roter Farbe gestempelt.
Die Kanzleischrift 隶书 hat sich gleichzeitig mit der Herausbildung des Beamtenapparates während der Han-Dynastie (206 v. Chr. - 220 n. Chr.) entwickelt. Da die Beherrschung der Kanzleischrift Voraussetzung für eine Beamtenstellung am Kaiserhof war, wird sie auch als Amtsschreiberschrift bezeichnet. Sie wurde insbesondere zum Schreiben von offiziellen Dokumenten verwendet. Der typische an- und abschwellende Pinselduktus ist hier sehr gut erkennbar. Das Schriftbild geht insgesamt mehr in die Breite und wirkt zum Teil etwas kantig.
Hinzu kamen die etwas schneller geschriebenen Schrifttypen: Die Konzept-, Kursiv- und Standardschrift, die sich alle unmittelbar aus der Kanzleischrift ableiten. Die Konzeptschrift 草书 und die Kursivschrift 行书 werden so schnell geschrieben, dass einzelne Pinselstriche miteinander verbunden oder gar ausgelassen werden. Diese beiden Stile wurden gern für persönliche Dokumente, wie Briefe oder Gedichte verwendet. Die Pinselführung und der Bewegungsfluss wird in diesem Schriftbild sehr deutlich sichtbar. Man könnte diese beiden Typen mit einer Art Schreibschrift vergleichen. Die Standardschrift 楷书 hingegen ist als eine Art Druckschrift zu verstehen. Sie entwickelte sich als letzter Schrifttypus und löste ab dem 6. Jahrhundert die Kanzleischrift endgültig als offizielle Schrift ab.
Als unübertroffener Meister der chinesischen Schriftkunst gilt Wang Xizhi 王羲之 (303-361) mit seinem „Vorwort zum Orchideen-Pavillon“. Seine Handschrift wurde vom Kaiser zum Ideal erhoben und hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der Schriftkunst in ganz China.
Beim Thema Kalligrafie gilt: selbst ausprobieren und üben, üben, üben. Es macht Spaß! Kalligrafie gilt in China nicht nur als eine der vornehmsten Kunstformen, sondern ist auch eine beliebte Freizeitgestaltung, die Geist und Hände fit hält.